: Warum ich Kunstlieder hasse
Das Trauma eines jungen Fernsehopfers: „Der Blaue Bock“ und Rudolf Schock (Teil 2)
Was bisher geschah: Der junge Fernsehkonsument Michael Q. sieht an einem Samstag im Kreise seiner Familie den „Blauen Bock“. Es tritt auf: der Kammersänger und Trümmerfrauenschwarm Rudolf Schock. Den Jungzuschauer Q. packt das blanke Entsetzen angesichts dieser bösartigen Karikatur eines Künstlermenschen.
Plötzlich hörte ich einen fremden schrillen Ton – langgezogen schwoll er an: ein gemeiner, nervenzerfetzender und mindestens ein ganzes Viertel unter der Orchesterbegleitung herumsägender Klang, dem nichts eigen war, was auch nur im Entferntesten an die harmonische Weise meiner Kindheit erinnert hätte. „Sah ein Knab ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden“, krächzte Schock, wobei sein Gesicht prompt in der Farbe einer zellophanierten Pall-Mall-Packung zu leuchten begann. Was weniger der interpretatorischen Umsicht des Sängers geschuldet war als vielmehr dem vergeblichen Versuch, die Endsilbe des Wortes „Heiden“ auf das von Franz Schubert sicherlich nicht ohne künstlerische Hintergedanken an diese Stelle platzierte hohe G zu pressen. Kurzum, was da eigentlich feinziseliert aus einer hochtourig getunten Kehle schwellen sollte, kumulierte im gouhlischen Geheul dieses verfluchten Mannes.
Immer toller ergoss sich jetzt das Knödeln, Wimmern und Jaulen des wie von Raserei befallenen Tenors in unser Wohnzimmer, so dass ich nicht länger fähig war, zu beurteilen, ob die Laute menschlichen Ursprungs waren oder doch eher aus jener dämonischen Moderhölle drangen, von der H. P. Lovecraft völlig zu Recht behauptet hat, sie sei die Generalstabskarte des Universums.
Meine Verwandten bemerkten noch immer nichts. Zumindest schien es mir so. Wie paralysiert verfolgten sie das infernalische Wüten Schocks, obwohl nun auf dem Kaminsims die ersten Gläser barsten, während in der Küche das Familienporzellan mit fürchterlichem Getöse aus den Regalen polterte. Im gleichen Augenblick begannen die Fensterläden unter der Knute eines tobsüchtigen Sturmes, der sich unvermittelt erhob, wie irrsinnig zu rütteln, als habe eine unchristliche dunkle Macht sämtliche Elemente entfesselt, um dem satanischen Sänger zu huldigen. Schocks Gesicht war nun endgültig zu einer heulenden Fratze des Bösen geworden. „Half ihm doch kein Weh und Ach“, gurgelte er unter wilden Konvulsionen und schlug – so schnell, dass man es kaum wahrnehmen konnte – seine kariösen Hauer in den Hals des komatös im Bühnenhintergrund dräuenden Komikers Nonsens. Der erschlaffte darauf wie ein nasser Sack und ward hernach im „Blauen Bock“ nie wieder gesehen.
Dann öffnete Schock mit einem Ruck den Hosenlatz, griff sich „Bock“-Wirtin Lia Wöhr, um sie auf dem Boden der Essener Gruga-Halle und vor den Augen des ungläubig staunenden Publikums mehrmals und kompetent nach Strich und Faden durchzunudeln. Der ihr halbherzig beispringende Schenk wurde von dem rasenden Sänger ohne viel Federlesens in einem mannshohen Appelwoi-Bempel ertränkt.
In der Grugahalle brach Panik aus. Alles sprang auf, rannte, rempelte und trampelte durch- und übereinander, glitt aus, schlug zu und hin, glitschte durch Lachen und Pfützen, in denen sich Wein, Blut und Brezelteig zu einer schleimigen Masse verdichteten, die alsbald nicht nur den ganzen Saal, sondern auch die Mattscheibe mit ekligem Grau überzogen hatte. Und über allem wütete die furchtbare Stimme des Höllentenors: „SarrrKnabRöööööööösschleimstehnaufheiiiiiden, Rööschleimschleimaufarrrrrarrrgh …“
Für das ganze Ausmaß der Wirrungen kann ich mich allerdings nicht mit letzter Sicherheit verbürgen. Die Performance Schocks war zu viel für meine jugendzarte Seele. Überwältigt von all den offenbarten Monströsitäten, fiel ich in eine tiefe Ohnmacht. Als ich zwei Tage später endlich erwachte, verlor man im Familienkreis kein Wort über die Angelegenheit. Ich hingegen sprach ununterbrochen und murmelte wie im Fieber: „Das Ding darf nie wiederkommen, das Ding darf nie wiederkommen, das Ding darf nie wiederkommen …“
Nachdem man sich das eine Woche lang geduldig angehört hatte und die zahlreich konsultierte Ärzteschaft jede Hoffnung auf Besserung verneinte, verbrachte man mich nach Österreich in ein Heim im abgelegendsten Teil des Stubaitals, wo ich bei karger Kost und viel frischer Luft die Krise überwinden sollte. Es brauchte jedoch jahrelange Gewaltmärsche in der Gletschereinsamkeit, mehr als einen Zug aus der Obstlerflasche und letztlich ein rostiges Tenorsaxophon und 20 Peter-Brötzmann-Platten, um mich von den erschütternden Eindrücken im „Blauen Bock“ zu erholen.
Noch heute zittern mir die Knie, wenn irgendjemand die Namen Rudolf Schock, Peter Schreier oder Anneliese Rothenberger erwähnt. Für mich sind das alles Teufel in Menschengestalt. MICHAEL QUASTHOFF