Reisen durch Zeiten und Räume

Zwei neue Filme, einer aus Frankreich, der andere aus der französischsprachigen Schweiz, rekonstruieren und reinszenieren Vergangenes: „Rückkehr in die Normandie“ besucht die Laiendarsteller, die 1974 an einem Film über den spektakulären Mordfall Pierre Rivière mitwirkten. „Lucie et maintenant“ wiederholt eine 33 Tage währende Autobahnreise, die den Schriftsteller Julio Cortázar und seine Gefährtin Carol Dunlop 1982 von Paris nach Marseille führte

VON CLAUDIA LENSSEN

Obwohl der 3. Juni 1835 auf einen Samstag fällt, zieht sich Pierre Rivière, ein 20-jähriger Bauernsohn aus dem französischen Department Calvados, seinen Sonntagsstaat an. Seine Eltern haben sich getrennt, Pierre lebt beim Vater. Er macht sich auf den Weg zum Hof seiner Mutter in der Ortschaft Aunay.

Dort angekommen, erschlägt er erst sie, dann die jüngere Schwester und schließlich den älteren Bruder. Nach der Tat zieht er über Land, bald wird er aufgegriffen. Noch vor Prozessbeginn verfasst er, der wenig Bildung genossen hat, einen Text, in dem er den Tathergang und die Motive erläutert. Mediziner prüfen, ob er wahnsinnig und damit vermindert schuldfähig ist. Er wird nicht zum Tode, sondern zu lebenslanger Haft verurteilt. Am 20. Oktober 1840 erhängt er sich in seiner Zelle.

Die Familientragödie von Pierre Rivière wäre heute vermutlich vergessen, hätte sein Fall nicht den Grundstein für eine neue Form der Zusammenarbeit von Medizin und Justiz gelegt. Die Gutachten der Mediziner sowie Rivières eigenes Zeugnis erregten die Neugier Michel Foucaults.

1973 edierte und kommentierte der französische Philosoph diese Texte, zwei Jahre später erschien seine thematisch ähnlich gelagerte, umfangreiche Studie „Überwachen und Strafen“. Davon ließ sich der Filmemacher René Allio anregen. Er fuhr in die Normandie und drehte, allen finanziellen Widernissen zum Trotz, mit Bauern aus der Region und einem jungen Assistenten namens Nicolas Philibert einen Film über Pierre Rivière. „Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma soeur et mon frère“ („Ich, Pierre Rivière, der ich meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder erschlagen habe“) kam 1976 ins Kino. Es war eine ethnografisch in die bäuerliche Lebenswelt zurückführende Rekonstruktion des Geschehens, in der die verfremdende Sprödigkeit der Laiendarsteller einen wichtigen Filter gegen falsche Einfühlung darstellte.

Nicolas Philibert, 1951 in Nancy geboren, ist heute ein gestandener Dokumentarist. Sein letzter Film, „Être et avoir – Sein und Haben“ handelte von einer Zwergschule auf dem französischen Land und fand drei Millionen Zuschauer – eine stattliche Zahl für einen Dokumentarfilm. Für sein jüngstes Projekt, „Retour en Normandie – Rückkehr in die Normandie“, ist er an die Schauplätze von Allios Film zurückgekehrt und hat nach den Menschen gesucht, die damals daran mitwirkten.

„Rückkehr in die Normandie“ ist ein unaufgeregt unterhaltsamer Reise-Essay geworden, der scheinbar mühelos vom heutigen Alltag der Bauern erzählt und zugleich von dem spezifisch cineastischen roten Faden ihrer gemeinsamen Erinnerung handelt. Philibert ist persönlich präsent, erläutert seine Motive und verknüpft, wo nötig, die komplexen Zeit- und Themenebenen mit einem Kommentar. Dazwischen sind Szenen und Standbilder aus Allios Film montiert.

Der Zufall will es, dass fast zeitgleich mit „Rückkehr in die Normandie“ ein Film startet, der eine ähnliche Zeitreise und eine ähnliche Rekonstruktionsarbeit unternimmt wie „Retour en Normandie“: „Lucie et maintenant“ von Simone Fürbringer, Nicolas Humbert und Werner Penzel. Der Titel ist ein Wortspiel aus „ici et maintenant“, „hier und jetzt“. Ihr Film reinszeniert eine Reise, zu der der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar zusammen mit seiner todkranken Lebensgefährtin Carol Dunlop 1982 antrat. Die beiden fuhren auf der Autobahn von Paris nach Marseille. Sie setzten sich als Regel, an jeder Raststätte zu halten und an einem Tag nicht mehr als zwei Raststätten anzusteuern – Cortázar war ein großer Freund der Idee, der Mensch sei ein Homo ludens, ein spielendes Wesen. Sie brauchten 33 Tage für die Strecke, die man in sieben Stunden zurücklegen kann.

Für „Lucie et maintenant“ schicken die drei Filmemacher ein junges Paar, Océane Madelaine und Jocelyn Bonnerave, im Campingbus auf die gleiche Reise, nach den gleichen Spielregeln. Doch während Philiberts „Rückkehr in die Normandie“ eine elegante Textur aus Roadmovie und stillgestellter Zeit, aus flüchtigen Impressionen und theoretischen Bedeutungsverweisen glückt, hat „Lucie et maintenant“ deutlich weniger Fortune.

Der Film ist ein optisches Reisetagebuch, das sich für nichts anderes als die beständige Innenschau der beiden Hauptfiguren interessiert. Schreib- und Leseszenen stehen für die Literatur; oft wird die „Die Autonauten auf der Kosmobahn. Eine zeitlose Reise Paris–Marseille“ von Julio Cortázar und Carol Dunlop zitiert. Manchmal wird Musik gehört, rhythmisch gezuckt und gesungen, dann wieder rückt eine Raupe ins Blickfeld oder eine Katze auf dem nächtlichen Parkplatz. Ein Zitat aus „Mille Plateaux“ verweist auf Gilles Deleuze’ Entwurf einer modernen „Nomadologie“. Aber diese autistischen Camper haben weder Begegnungen noch Erkenntnisse. Von Cortázar und Dunlop ist nur das Etikett entliehen, vom nomadischen Aufbruch bleibt studentisches Spießertum.

„Rückkehr in die Normandie“ dagegen gelingen die Recherche „wieder gefundener Zeit“ und die Einbindung der poststrukturalistischen Theorie; der Film fängt die physisch erfahrbare Ausgangssituation von Foucaults Untersuchungen ein, indem er mit der Kamera – Katell Djian führt sie – die Archive und Gefängnisse aufsucht. Foucaults Denkschule war Allios Ideengeber. Der Theatermann, Szenenbildner und Außenseiterregisseur glaubte an den fotografischen Realismus und die Aussagekraft regional verwurzelter Darsteller. Das Zwischenreich dokumentarischen und fiktionalen Erzählens und die Frage, ob es die Beteiligten bereicherte, beschwört Philiberts Rekonstruktion.

Was hat Allio gesucht, als er drei Monate lang auf den Höfen nach Darstellern und authentischen Schauplätzen Ausschau hielt? Was blieb als Resonanz, als das Team zur Postproduktion nach Paris weitergezogen war? Claude Hébert, der grandiose Darsteller des Pierre, selbst ein vernachlässigtes Bauernkind, folgte Allio nach Paris, drehte weitere Filme und verschwand in den Achtzigerjahren. Was Philibert, der ihn einst zu Probeaufnahmen einlud, unternimmt, um ihn zu finden, und was sein weiteres Leben prägte, macht einen der sanften Spannungsbögen von „Rückkehr in die Normandie“ aus. Ausschnitte aus „Moi, Pierre Rivière …“, die Héberts Präsenz in der Rolle des „unschuldigen“ Mörders zeigen, sind gegen Szenen montiert, in denen die einstigen Protagonisten von den Dreharbeiten und dem Leben seither erzählen.

Was unterschied die Arbeit an „Moi, Pierre Rivière …“ vom gewöhnlichen Filmzirkus? Zum Beispiel, dass die Bauern beim Verlegen der Kameraschienen selbst mit Hand anlegen wollten. Wie funktionierten ländliche Familien in den Siebzigerjahren? So, dass es mindestens außergewöhnlich war, wenn ein Bauer sich traute, einen Liebhaber zu spielen – ein wenig so, als färbte das Verhalten der Figur auf das des Darstellers ab.

Für welche politischen Themen kommen die Leute heute zusammen? In einer langen Sequenz sieht man, wie sie gegen eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage mobil machen.

Nicht zuletzt faszinieren Philibert die Wunder und Unerbittlichkeiten des französischen Landlebens. Man sieht grazile Kühe spazieren und eine Sau beim Gebären. Ein Ferkel schafft es nicht ins Leben, obwohl es lange mit animierenden Schlägen traktiert wird.

„Retour en Normandie – Rückkehr in die Normandie“. Regie: Nicolas Philibert, Dokumentarfilm, Frankreich 2006, 113 Min., Start: am 26. Juni „Lucie et maintenant“. Regie: Simone Fürbringer, Nicolas Humbert, Werner Penzel. Mit Océane Madelaine, Jocelyn Bonnerave u. a. Schweiz/ Deutschland 2007, 80 Min., Start: heute