: Fotografische Moderne
Kunst sollte doch etwas mit Politik zu tun haben: Das belegt die große Alexander-Rodtschenko-Retrospektive im Gropius-Bau. Just an dem Ort, an dem der Künstler schon 1929 in der berühmten Werkbund-Ausstellung „Film und Foto“ vertreten war
VON EGBERT HÖRMANN
Die Revolution findet in zehn Sälen statt: Alexander Rodtschenko, der große Meister der fotografischen Moderne, hat den Ostflügel des Martin-Gropius-Baus eingenommen, wo er bereits 1929 im Rahmen der von Lissitzky gestalteten internationalen Werkbundausstellung „Film und Foto“ vertreten war. Es ist die angemessene Hommage an einen Künstler, der in Deutschland erst 1987 mit einer Ausstellung im Museum Ludwig, Köln, gewürdigt und rezipiert wurde. Wie einige Kollegen (etwa Man Ray oder Cartier-Bresson) war Rodtschenko, 1891 in ärmlichen Sankt Petersburger Verhältnissen geboren, zuerst Maler. Er begann 1918 im Wettstreit mit Malewitsch mit einer Reihe suprematistischer „Schwarzer Bilder“, wechselte zu dreidimensionalen Raumkonstruktionen über und proklamierte 1921 schließlich das Ende der Tafelbildmalerei, um sich, den Prinzipien des Konstruktivismus folgend, den Alltagsgegenständen und der Gebrauchskunst zuzuwenden.
Als Designer, Grafiker und Umweltgestalter entwickelte Rodtschenko als erster sowjetischer Künstler seine Fotomontage- und Collagenpraxis, als deren vollkommenstes Beispiel die kühne Buchgestaltung für Majakowskis episches Liebesgedicht „Pro Eto“ (1923) gilt, die ihn auch zu einem Begründer der modernen Typografie machte.
„Es sieht so aus, als könne nur der Fotoapparat das moderne Leben abbilden“ – die frühen Zwanzigerjahre bildeten das „Zwischenzeitalter“, eine Zeit, in der – wenn auch kurz und illusorisch – ein überaus fruchtbares Wechselspiel zwischen moderner Kunst und gesellschaftlichem Experiment stattfand. Die Avantgarde und die junge Sowjetmacht waren sich einig: Mit Film und Foto fand Kunst ihren wirkungsvollsten Ausdruck auf der Höhe der Zeit. Gerade die Spannung zwischen modernistischer Ästhetik und politischer Zielsetzung schuf dabei die Kraft und die Einmaligkeit eines dezidiert sowjetischen Stils, der sich von ähnlichen Strömungen, wie etwa dem deutschen Bauhaus, wesentlich unterscheidet.
Ab 1924 widmete sich Rodtschenko ganz der Fotografie, die all seine Ansichten über Kunst und die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit von Künstlern und Technikern bestätigte. Begleitet von einer intensiven theoretischen Beschäftigung, die ihren Niederschlag in zahlreichen Essays und Tagebüchern fand, folgte das Ringen um ein neues fotografisches Denken und eine Sprache zur Darstellung des „sowjetischen Themas“, wobei Künstlerisch-Formales und Inhaltliches gleichwertig auf hohem Niveau stehen sollten.
Für Rodtschenko war die Fotografie eine seiner wichtigsten „Erfindungen“, und mit seiner Frau Warwara Stepanowa entwickelte er sie zu einem vom Seriencharakter gekennzeichneten System visueller Kommunikation. Er erforschte und sah aber nicht nur das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen, sondern er war auch ein Neuerer auf dem Gebiet des sozialen Inhalts, wobei dies mehr ist als die Bebilderung einer Epoche der russischen Geschichte, da sein Werk auch die Entwicklung der fotografischen Kunst bezeugt. Rodtschenkos Sehweise, seine Neudefinition radikaler Ästhetik wie auch die Verschiebung ihrer Grenzen, hat unsere moderne Wahrnehmung der Welt und „die Fähigkeit, von allen Seiten zu sehen“, entscheidend mitgeformt.
„Wir sind gezwungen zu experimentieren“ – Schklowskis Theorie vom „neuen Sehen“ folgend, entwickelte Rodtschenko die berühmte „Rodtschenko-Perspektive“. Deren Grundprinzip war: „Vor allem von oben nach unten und von unten nach oben – dieses sind die interessantesten Blickwinkel der zeitgenössischen Fotografie.“ Verfremdungen, Paradoxen, Geometrien, extrem steile, hohe und niedere Blickwinkel, die Betonung von Perspektive und Tiefe durch das Prinzip der „Rodtschenko-Verkürzungstechnik“, ergeben immer vitale und hypnotische Aufnahmen von Straßenzügen, Alltagsszenen, technischen Bauten, Sport- und Produktionsstätten und Darstellungen des optimistischen „homo sovieticus“.
Es sind häufig „banale“ Motive, die gleichzeitig starken Signalcharakter haben. Wie die Filmregisseure Eisenstein und Wertow komponierte Rodtschenko seine Bilder, anstatt einfach die Kamera „draufzuhalten“, ein überkommender Blickwinkel, den er als „die Bauchnabelperspektive“ bezeichnete. Ein wundervolles Beispiel ist „Stufen“ (1930), ein auf den ersten Blick simples Bild, aber dennoch voller dramatischer Suggestivkraft. Komposition und Perspektive vermitteln ein frisches Erlebnis des Auges und den Durchbruch in eine Tiefendimension, wo sich der Gefühlsgehalt des Bildes eröffnet: Es ist der Mensch in Bewegung, der Mensch, der aufsteigt, der Schwierigkeiten überwindet, die Bezeugung eines tiefen Zukunftsglaubens.
1934 wurde der sozialistische Realismus zum offiziellen Stil erklärt und der künstlerischen Moderne in Russland damit der Garaus gemacht, aber Rodtschenko war bereits ab 1928 scharfer Kritik ausgesetzt und wurde als „bürgerlich-formalistisch“ diffamiert. Repressionen folgten, Rodtschenko wechselte erfolgreich zur Gestaltung von Zeitschriften und zur Fotoreportage über. Den klassisch-tragischen Kunstkonflikt zwischen Theorie und Praxis kommentierte Rodtschenko 1943 in seinem Tagebuch mit: „Kunst sollte nichts mit Politik zu tun haben.“
Bis 18. August, MGB, Mi.–Mo. 10–20 h