: Körper in Leidenschaft
Der Choreograf Martin Nachbar bearbeitet in „Urheben Aufheben“ die Rohstoffe menschlichen Daseins
Mit der Liebe sei er nicht fertig geworden, sagt Martin Nachbar. Sagt es, als er in seiner einstündigen Tanz-Lecture-Performance „Urheben Aufheben“ in den Berliner Sophiensælen eine weitere Version seiner Langzeitbeschäftigung mit den Choreografien Dore Hoyers vorstellt. Nicht fertig geworden mit der Liebe, das passt ins Konzept dieser Gefühlserforschung, heißt aber erst mal ganz praktisch: nicht zum Ende gekommen mit der Rekonstruktion der von Hoyer innerhalb ihres fünfteiligen Tanzzyklus „Affectos Humanos“ von 1962 entworfenen Choreografie „Liebe“.
Also erzählt er von den Bewegungen Hoyers, wie sie im Fersensitz den Raum durchquerte und dabei ihre Hände zu Schwanenköpfen werden ließ. Beim Sprechen nimmt er das Gesagte auf, führt Aneignung vor und interpretiert die Bewegungen gleichzeitig. Seine Arme werden Hälse, die sich sanft umtanzen, dann mit aneinandergelegten Schnäbeln die Herzform bilden.
Bereits 1999 stieß der damals 28-jährige Nachbar, vorwiegend ausgebildet in Releasetechnik und Contact Improvisation mit letzter Station bei P.A.R.T.S. in Brüssel und damit auf den ersten Blick denkbar weit von der expressiven Hochspannungskörperlichkeit der 1911 geborenen Hoyer entfernt, auf die Videoaufzeichnungen der „Affectos Humanos“ – und war fasziniert. Von der intellektuellen Abstraktionsleistung, mit der sie die menschlichen Leidenschaften Eitelkeit, Begierde, Hass, Angst und Liebe in eine Bewegungssprache zu übersetzen verstand, von der eine ungebrochene Intensität ausging, obwohl sie als altmodisch gelten musste.
Nachdem er sich bereits 2000 für „affects/rework“ drei der je vierminütigen Tanzsoli angeeignet hat, reicht Nachbar nun die verbliebenen zwei nach. Dazu kreiert er eigene Teile, die die historische Entfernung markieren, und bindet das Ganze in eine unterhaltsam-kluge Schultafel-Lecture ein, die das Projekt auf der Metaebene reflektiert. Dabei setzt er sich mit der Frage auseinander, was es bedeutet, die flüchtige Kunst des Tanzes durch nachahmende Wiederholung festzuhalten und notwendigerweise zu variieren.
Im Rückwärtslauf taucht er ein in das „Archiv, das in Unordnung gerät durch meinen Körper und dadurch sichtbar wird“. Das unrettbar Ephemere kann nur wieder wahrnehmbar gemacht werden, indem seiner ursprünglichen Form etwas Neues hinzugefügt wird.
Nicht „Originaltreue“, sondern die notwendige Differenz zwischen Hoyers Original und der in der Zusammenarbeit mit ihrer Assistentin Waltraud Luley erarbeiteten Rekonstruktion steht im Fokus. Während Nachbar „Eitelkeit“ mit gespreizten Flatterfingern und „Begierde“ mit sich sehnend ins Äußerste gereckten Armen zur Originalmusik Dimitri Wiatowitschs tanzt, begleitet ihn bei den gekrallten Händen und Ausfallschritten von „Hass“ nur sein mikroportverstärkter Atem. Nach „Angst“ verlässt er für vier Minuten die Bühne und vertraut das eben aufgezeichnete Keuchgeräusch ganz dem Publikum und seinem Gedächtnis an – diesen Teil nennt er „Erinnern“. ANNE PETER