: Im Zweifel für den Vergewaltiger
Vom „Ehrenraub“ zum „Verbrechen gegen die Sittlichkeit“: Im Umgang mit Vergewaltigungen galt lange die verletzte Ehre als eigentliches Opfer. Ein Gespräch mit dem Historiker Hiram Kümper
HIRAM KÜMPER, 26, Historiker, erforscht vor allem die Rechtsgeschichte, die Reformationszeit und die Didaktik des Geschichtsunterrichts. Im Wintersemester wird er an der Universität Lüneburg lehren.
INTERVIEW ANNEDORE BEELTE
taz: Herr Kümper, wie geriet die Geschichte sexueller Gewalt in Ihr Blickfeld?
Hiram Kümper: In der Rechtsgeschichte gibt eine riesige Diskrepanz zwischen dem niedergeschriebenen Recht und der Wirklichkeit. Darauf bin ich in meiner Dissertation gestoßen. Der Sachsenspiegel, die erste größere Rechtsaufzeichnung aus dem 13. Jahrhundert, schreibt vor, den Vergewaltiger, die Augenzeugen und sogar das Vieh zu töten und dann das Haus, in dem die Tat passiert ist, abzubrechen. In der Praxis ist das nie belegt, dort ist es viel diffiziler. Man fragt: Was sind die Rechtsgüter, die verletzt wurden? Das ist bis zur Aufklärung nie die Integrität der Frau, sondern die „munt“, die Vormundschaft des Ehemannes, Vaters oder Bruders über die Frau, das ist die Ehre der Familie und die öffentliche Ordnung.
Also ging die Handhabung in die Richtung: Im Zweifel für den Angeklagten?
Grundsätzlich ja. Die Rechtspraxis wurde von Eliten beeinflusst, die ein Interesse an Normierung haben: erst von der Theologie, später von Wissenschaft, Medizin und Philosophie. Foucault spricht davon, dass sich im Morgendämmern der Moderne eine „Scientia Sexualis“, eine Wissenschaft von der Sexualität, ausbildet. Die Umstände, um eine Vergewaltigung festzustellen, werden immer komplexer. Es ist ambivalent: Man hört die Frau immer mehr in den Prozessen. Gleichzeitig versucht man, Männer davor zu schützen, dass der Vergewaltigungsvorwurf instrumentalisiert wird.
Wie intervenierten die frühen Gerichtsmediziner in den Prozessen für die Partei der Männer?
Man ging davon aus, dass zur Empfängnis auch eine weibliche Samenflüssigkeit vorhanden sein müsse, dass also Empfängnis ohne weiblichen Orgasmus nicht möglich sei. Wie kann dann eine vergewaltigte Frau schwanger werden? Das wurde Jahrhunderte lang diskutiert.
Gab es noch andere Argumente, die um Verständnis für Vergewaltiger warben?
In der Vormoderne war Gewalt zumindest denkbar als Weg, einvernehmliche sexuelle Kontakte anzubahnen. Ein Fall aus den 1570er Jahren in Wolfenbüttel zeigt das: Ein Amtmann versuchte die Frau eines Soldaten erst zu verführen, dann zu vergewaltigen. Beim dritten Versuch brach er in ihr verschlossenes Haus ein, zerbrach eine Fensterscheibe und hob eine Tür aus den Angeln. Die Frau klagte ihn an. Er gab den Einbruch zu, leugnete aber den Vergewaltigungsvorwurf. Die Richter schlossen sich der Argumentation des Mannes an, es habe sich nur um „versuchte Unzucht“ gehandelt, also Kontaktanbahnung zwischen verheirateten Personen. Der Täter musste lediglich den Materialschaden ersetzen.
Gibt es eine Verbindung von den damaligen Denkmustern bis zur Gegenwart?
Die Linie verläuft in Wellen. An der Bruchstelle zur Moderne wird Sexualität identitätsstiftend. Eine Vergewaltigung im Mittelalter ist ein Verbrechen, das mit Ehre zu tun hat, aber nicht mit dem Gewissen des Täters. Das ändert sich in der Moderne. Im frühen 18. Jahrhundert lässt sich zunehmend ein Leiden an der eigenen sexuellen Identität feststellen. Man könnte es eine kollektive Sexualneurose nennen. In Journalen wie dem Hannoverschen Magazin erscheinen unter dem Titel „Brief eines jungen Adligen“ regelmäßig Bekenntnisse von jugendlichen Verfehlungen. Mit Masturbation fängt es an und kann eigentlich nur in den Abgrund führen – das ist in der Regel die Syphilis. Dazwischen stehen sexuelle Praktiken aller Art: homosexuelle Kontakte, Fetischismus, Verkehr mit Tieren.
Sie haben das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg für eine Fallstudie ausgewählt. Waren die Männer hier gewalttätiger als anderswo?
Der Bochumer Historiker Hiram Kümper erforscht die Geschichte der sexuellen Integrität und ihrer Verletzung vom ausgehenden Mittelalter bis zur Aufklärung: „Geschundene Körper – gestörte Seelen – verletzte Ehre“, so der Arbeitstitel. Eine Fallstudie widmet er dem Herzogtum Braunschweig-Lüneburg. Im Rahmen des Gerda-Henkel-Stipendiums für Ideengeschichte recherchiert er in den Beständen der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel nach Fallbeispielen sexueller Gewalt und ihrer Ahndung. Er analysiert gynäkologische, theologische und juristische Traktate und einschlägige Ratgeber wie „Der bösen Weiber Zuchtschul“ (circa 1530) oder „Der Eheleute Lustgarten“ (1600). BEE
Nein, überhaupt nicht. Die Überlieferung ist hier nur besonders gut, weil es wenig Kriegsschäden gab und die Herzog-August-Bibliothek nie evakuiert wurde. Ab 1500 war die Region intellektuell ausgesprochen rege, unter anderem gab es eine hohe Dichte von Druckereien.
Heute kennt man den Begriff „Ehre“ eher aus Debatten über den Islam. Hilft der Blick in die eigene Geschichte, das Denken von Muslimen nachzuvollziehen?
Dass es interkulturelles Potenzial hat, wenn man versucht, sich selbst zu verstehen, ist keine Frage. Aber die autoritativen Texte der westlichen Welt sind ganz andere als die der islamischen. Die Vorstellung, dass Sexualität nur auf Zeugung ausgelegt und Lust zu vermeiden ist, gibt es im Islam nicht.
Gab es im westlichen Mittelalter Ehrenmorde?
Die Tötung untreuer Ehefrauen scheint in vielen Kulturen ein naheliegender Impuls zu sein. Auch in Deutschland: Bis ins 16. Jahrhundert wird dem Mann das Recht zugestanden, seine Frau zu töten, wenn er sie in flagranti mit einem anderen erwischt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass so etwas jemals ausgeübt wurde. Aber es kann sein, dass es einfach nicht dokumentiert wurde, denn es war ja legitim.