: Nervenspiel am Badesee
Jonas Ems darf bei den Olympischen Spielen im Einerkajak über 500 Meter an den Start gehen. Im teaminternen Stechen vor beschaulicher Kulisse setzt sich der 21-Jährige gegen Torsten Lubisch durch
AUS KIENBAUM SIMON WALTER
Bei den olympischen Spielen werden tausende Zuschauer am Ufer stehen. Sie werden hoffen, sie werden bangen. Und: Sie werden so laut sein, dass die Kanuten auf dem Wasser die Emotionen zu spüren bekommen. Dieses Gefühl wollen auch Torsten Lubisch und Jonas Ems genießen. Doch für die beiden Spezialisten auf der 500-Meter-Strecke im Einerkajak geht es schon fünf Wochen vor Olympia um beinahe alles: Nur der Sieger des Stechens auf dem Liebenberger See in Kienbaum nahe Berlin darf die Reise nach Peking antreten.
Von der prickelnden Atmosphäre, die den Sieger in China erwartet, ist im Brandenburgischen nichts zu spüren. Ein unspektakuläres Bild bietet sich den Besuchern des Sportzentrums Kienbaum. Knapp 40 Menschen verteilen sich auf Bootssteg und Wasserrand, etwas abseits kämpft eine Gruppe Kinder um eine Luftmatratze. Nein, von einem Kanu-Stechen wisse sie nichts, sagt die Rezeptionistin am Eingang. Dabei zittern nur wenige Meter entfernt Lubisch und Ems dem Kampf um das Olympiaticket entgegen. Nicht in einem Teilnehmerfeld von acht Starten, wie bei Wettbewerben. Nicht unter Anfeuerungsrufen begeisterter Fans. Sondern zu zweit: Mann gegen Mann, Boot gegen Boot – unterstützt nur von wenigen Betreuern und Bekannten, die angespannt im Zielbereich warten.
Heimvorteil hat dabei der Berliner Lubisch: Mitglieder seines Ruder- und Kanuvereins Berlin (RKV) sind zur Unterstützung angereist, Schwester Luise hat ein Plakat gemalt: Ein Herz, der Name „Torsten“ und unruhige Wellen sind darauf zu sehen. Welch ein Sinnbild für die Gefühle der Verwandtschaft. Denn alles andere als ruhig ist auch Großmutter Anneliese, nervös wechselt sie zwischen Steh- und Sitzposition hin und her. „Eigentlich ist er der Stärkere“, meint Klaus-Peter Wilcks, Rennsportwart des RKV. Und doch: Geschlafen hat auch er in der Nacht zuvor fast gar nicht.
Zittrige Stimmen, bange Blicke. Es ist 17.55 Uhr, fünf Minuten geht dies noch so. Eine Berlinerin möchte die Anspannung überspielen: „Ich nehme noch Wetten auf Torsten an“, so die junge Frau. Da erkundigt sich ein anderer: „Bei einer Quote von 1:1?“ Lubisch gilt bei ihnen als Favorit. Nur einmal landete er in dieser Saison hinter Ems. Vor zwei Wochen kam er beim Weltcup in Duisburg gar auf Bronzerang drei. Sein Olympiaticket hatte er dennoch nicht sicher. Chefbundestrainer Reiner Kießler hatte Ems kurz vor dem Start wegen eines Abszesses an der Stirn Startverbot erteilt. „Dabei wollte ich unbedingt teilnehmen. Ich hätte sogar unterschrieben, dass ich die Verantwortung übernehme,“ sagt der Sprintweltmeister von 2007 heute. „Sehr dankbar“ sei er daher, dass er nun diese Chance bekomme.
Punkt 18 Uhr liegt es an ihm zu zeigen, dass er diese verdient hat. Es gelingt – und wie: Lubisch verpatzt den Start, Ems liegt früh eine Bootslänge in Front. Doch der Berliner kämpft sich heran. 50 Meter vor dem Ziel bemerken das auch seine Fans: „Torsten“-Sprechchöre ertönen. „Komm, Jonas“, schreien andere: Familie Ems und Trainer Robert Berger.
Eine ganze Saison lang hatten beide trainiert, täglich 20 Kilometer auf dem Wasser zurückgelegt, im Kraftraum über Stunden hinweg jede Muskelfaser auf Höchstform gebracht. Alles für ein großes Ziel: Olympia. Für Lubisch geht dieser Traum nach 103 Sekunden auf dem Liebenberger See zu Ende: 14 Hundertstel fehlen am Ende – ein Wimpernschlag zwar nur, aber ein sichtbarer. Noch bevor das Zielfoto gesichtet wird, kehrt in der gerade noch aufgeregten Menge Ruhe ein. Wie zaghafte Versuche, die bedrückende Stille zu durchbrechen, erscheinen da die glücklichen Schreie der immer noch planschenden Kinder. Einer der Jüngeren freut sich gerade über seinen persönlichen Tauchrekord – und jubelt so, als hätte er soeben Gold gewonnen.
Erschöpft sitzen unterdessen Glück und Leid am Rande des Stegs ganz nah beieinander. Rechts Lubisch, links Ems, dazwischen deren beide Freundinnen. Der eine: erschöpft, aber glücklich. Der andere: kann, anders als Schwester und Großmutter, zwar seine Tränen zurückhalten, nicht aber die Enttäuschung. „Keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht,“ so der 23-Jährige. Da helfen auch die Aufmunterungsversuche von Oma Anneliese nur wenig: „Das werden jetzt harte Stunden“, seufzt sie. „Aber er ist noch so jung, er kann noch so viel schaffen.“
Weiter gehen wird es auf jeden Fall – „Irgendwie, vielleicht bei den Deutschen Meisterschaften im Herbst“, so Lubisch. Ganz anders Ems. „Der Druck ist endlich weg, jetzt kann ich mich im Training weiter steigern“, ist er sich sicher. Zwei schreckliche Wochen lägen hinter ihm, im Endeffekt seien mentale Kleinigkeiten ausschlaggebend gewesen. „Reine Nervensache“, ist sich auch Freundin Frederike sicher. Fast schützend hat sie den Arm um ihren Freund gelegt. „Ohne sie“, so Ems, „hätte ich die psychische Belastung wohl gar nicht ausgehalten.“ Und doch mangelt es dem Olympiateilnehmer nicht an Selbstbewusstsein. „Ich fahre da nicht hin, um nur teilzunehmen“, sagt er. Und weiter: „Ich will immer gewinnen, also muss auch in Peking Platz eins mein Ziel sein.“