: Vorboten des Wahlkampfs
Indiens Hindunationalisten setzen wegen eines religiösen Landkonflikts mit Drohungen einen Proteststreik durch
DELHI taz ■ Karol Bagh, ein Stadtteil im Westen von Indiens Hauptstadt Neu-Delhi: Die meisten Geschäfte des sonst lebhaften Basarviertels haben heute geschlossen. Die hindunationalistische „Indische Volkspartei“ (BJP) und der fanatische „Welthindurat“ (VHP) haben zum landesweiten Proteststreik aufgerufen. Es herrscht angespannte Ruhe.
Dann gibt jemand das Warnzeichen: Sie kommen. Hektisch räumen die wenigen Händler, die ihre Geschäfte geöffnet haben, ihre Auslagen in die Läden. Sie versperren Türen und reißen Rollgatter herunter. Kurz darauf marschieren hundert junge Demonstranten auf. In den Händen halten sie Fahnen in Safran-Orange, der Farbe der Hindus.
„Ein Streikbrecher“, ruft ein junger Mann und zeigt auf einen kleinen Lebensmittelladen in einer Nebenstraße. Sofort setzen sich er und drei andere in Bewegung, dann folgen ihnen mehr als ein Dutzend Männer und bauen sich vor dem Ladenbesitzer auf. „Bist du kein Hindu?“, brüllt einer. „Ist es dir egal, was in Kaschmir mit uns gemacht wird?“ Der Mob schreit sich in Rage. Nur die Ruhe, entgegnet der Händler zurückhaltend, er sei doch bereits dabei, seinen Laden zu schließen. Die Männer drohen ihm, sie würden das später überprüfen, dann wenden sie sich von ihm ab und gehen zurück zu ihrem Protestzug.
Den Hindunationalisten geht es bei ihrem Protest um wenige Hektar Land in Kaschmir und die Rücknahme einer Entscheidung der dortigen Landesregierung. Die hatte vor mehr als einer Woche angekündigt, einer religiösen Stiftung, die eine Hindu-Pilgerstätte verwaltet, Land für den Bau von Unterkünften bereitzustellen. Doch dazu kam es nicht.
Zehntausende Menschen gingen in Indiens einzigem Bundesstaat mit einer muslimischen Mehrheit auf die Straßen und protestierten gegen den „Ausverkauf“ ihres Landes. Die Landvergabe diene dazu, Kaschmir schleichend mit Hindus zu besiedeln, hieß es. Schnell mischten sich wieder Forderungen nach der Unabhängigkeit von Indien in die Demonstrationen. Die Bilder erinnerten an die Proteste von 1989, denen ein Jahrzehnt der Gewalt folgte.
Daher annullierte die Landesregierung Ende letzter Woche die Landvergabe. Damit rief sie die Hindunationalisten auf den Plan. In Jammu, dem Teil des Bundesstaates Jammu & Kaschmir mit einer Hindu-Mehrheit, legen sie seit Tagen das öffentliche Leben lahm. In Agra im Bundesstaat Uttar Pradesh blockierten sie Eisenbahngleise und stoppten Züge. In Indore in Zentralindien starben zwei Menschen bei Zusammenstößen mit der Polizei. Die Behörden verhängten eine Ausgangssperre.
Die drohende Gewalt wirkt sich an diesem Tag besonders deutlich auf das Zentrum der muslimischen Bevölkerung in Delhi aus: Auf dem Chandi Chowk, der Hauptstraße und Lebensader der historischen Altstadt, sind nur wenige Menschen zu sehen. Die Rollgatter sämtlicher Geschäfte sind heruntergelassen. Polizeijeeps patrouillieren durch die Straßen.
Denn bereits mehrfach haben vergleichbare Proteste Gewaltspiralen in Gang gesetzt, die in blutigen Unruhen mit hunderten von Toten endeten. 1992 stürmten Anhänger von BJP und VHP im nordindischen Ayodyha eine Moschee und zerstörten sie. Die anschließenden landesweiten Ausschreitungen forderten tausende Menschenleben. Zehn Jahre später machten Anhänger des VHP im Bundesstaat Gujarat Jagd auf Muslime, führten auf dem Land ethnische Säuberungen durch und töteten tausende Menschen.
Ein baldiges Ende des Landstreits ist nicht in Sicht. Denn die BJP nutzt häufig religiöse Themen, um Wähler zu mobilisieren. Zudem zeichnet sich ein Bruch der Mitte-links-Zentralregierung in Delhi ab: Es könnte schon in wenigen Wochen zu vorgezogenen Neuwahlen kommen. Die religiös aufgeheizten Proteste auf Indiens Straßen könnten Vorboten des Wahlkampfes und der Versuch der hindunationalistischen Opposition sein, sich durch Polarisierung eine günstige Ausgangslage zu schaffen. SASCHA ZASTIRAL