Genie auf dem Schafott

Ein „historisches Dokument“: Ein Gesprächsband porträtiert den gerade gescheiterten österreichischen Kanzler Alfred Gusenbauer – eine so persönliche wie exemplarische sozialdemokratische Geschichte

VON PETER UNFRIED

Mal angenommen, ein Sozialdemokrat führte eine große Koalition in Deutschland an. Einer aus der Generation nach Schröder. Sagen wir aus naheliegenden Gründen: Steinmeier. Könnte aber auch Gabriel sein. Dieser Kanzler soll nun als Moderator nach innen und außen und mit besonderer Autorität und Authentizität der ratlosen Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert mit und neben einem gleichstarken sozial-konservativen Koalitionspartner Halt, Position und Richtung geben. Was? Genau: unmöglich.

So gesehen sollte man sich jegliches Höhnen über den noch amtierenden österreichischen Bundeskanzler Alfred Gusenbauer genau überlegen. Und auch nicht der Versuchung erliegen, sein spektakuläres Scheitern allein auf ein individuelles Versagen wegen fehlender Sozialintelligenz und Qualitätsmängeln beim Strippenziehen, Schleimen und Intrigieren zu reduzieren. Es gehört was dazu, es als Politiker mit 48 bereits hinter sich zu haben. Im Übrigen: Die Sozialdemokratie hat ein Problem, aber dessen Ursache ist nicht Gusenbauer. Genauso wenig wie Beck.

Wenn man sich derart gestimmt auf den Gesprächsband „Die Wege entstehen im Gehen“ einlässt, kann man mit dem yesterday’s man Alfred Gusenbauer eine sehr angenehme Überraschung erleben. Der Falter-Chefredakteur Armin Thurnher ist einer der wichtigsten Journalisten Österreichs. Katharina Krawagna-Pfeifer und er haben neun lange Gespräche mit dem Kanzler geführt, in denen er sich biografisch erklären und als Intellektueller und Europäer positionieren darf. Was ihm überzeugend gelingt.

Aber wer braucht das jetzt noch? Na ja, es sei „ein historisches Dokument“, sagt Thurnher. Es ist jedenfalls unter den deutschen Sozialdemokraten (und Christdemokraten, Linken, Freidemokraten und Grünen) um die 50 keiner auffällig geworden, der derart politiktheoretisch, kulturell und geschichtlich gebildet zu denken und reden in der Lage wäre. Es würde sich auch für sie lohnen, einige europäische Gedanken des EU-sozialisierten Gusenbauers aufzugreifen.

Der Mann beantwortet auch sehr private Fragen. Etwa ob er Operationen hatte („Nein.“). Er erzählt, wie er in der SPÖ an die Macht kam, kritisiert die Medienrealität von Politikern und Journalisten, die „auf ein paar Quadratmetern in etwa zehn Lokalen in Wien“ entstehe. Spricht über seine Lebensgefährtin und die Frage, warum er nicht verheiratet sei („Ich kann nur feststellen, dass wir seit dem 23. November 1986 beisammen sind.“).

Es hat für Nichtösterreicher auch etwas Putziges, wenn er davon erzählt, wie er zu Hause in Ybbs seinen Aufstieg begann, der einerseits als wunderbares Beispiel für sozialen Fortschritt durch sozialdemokratische Gerechtigkeits- und Bildungspolitik zu lesen ist, andererseits auch als solitäres Karrieremodell eines extrem fleißigen Ausnahmeaufsteigers. Wie er die Sozialistische Jugend aufgebaut hat, sozialdemokratischer Schulsprecher war und die Schülerzeitung gegründet hat.

Bei aller selbstverständlichen Begeistertheit Gusenbauers über sich („Sie waren der Chefredakteur?“ – „Ja, natürlich.“) hat es vor allem aber ein unprätentiöses und sehr authentisches Moment. Da erzählt er, dass der Grundschuldirektor „Pummerl“ ihn ans Gymnasium gebracht habe, dass bei der Oberstudienrätin Louise Hartl „nomen est omen“ galt, und er sie dennoch oder deshalb „irgendwie geliebt“ habe. Gymnasiast Gusenbauer stand auf Leistung und deshalb um halb sechs in der Früh auf, wiederholte den Stoff in allen Fächern, sodass er „immer perfekt vorbereitet war“. Es wird sehr klar, dass Gusenbauer nicht der rotweinfixierte Bonvivant ist, zu dem ihn die österreichischen Medien gemacht haben, sondern ein richtiger Streber.

Liegt es an ihm, liegt es an der sorgfältigen Überarbeitung der Interviews? Jedenfalls hat man den Eindruck, es mit einem richtig sympathischen Angeber zu tun zu haben. Selbstverständlich wird die bekannte Promofolklore auch eingewoben, etwa die frühe Begeisterung für die SPÖ-Kanzlerlegende Bruno Kreisky, die Einschätzung der Leute, er werde mal dessen Nachfolger – und seine Bestätigung dieser Annahme („Ich werde das später einmal machen.“).

Um diesen Anspruch inhaltlich und strategisch zu unterfüttern, las er Gramsci, konkret, die Reden des Cicero und auch die Reden des Saint-Just zur Verteidigung Robespierres. Einen Satz daraus hat er seit langem im Repertoire: „Die Koalition der Mittelmäßigen bringt das Genie auf das Schafott.“ Gusenbauer: „Ein bedeutsamer Satz.“

Sparen wir uns die Pointe und weisen darauf hin, dass Gusenbauer neben anderem auch ein paar großartige Aphorismen auf Lager hat, die morgen noch gültig sein werden. Zum Beispiel: „Wenn sich Bösartigkeit mit Intelligenz paart, wird es gefährlich; ist allerdings die Dummheit ihr Partner, wird es lächerlich.“ Der Mann hat was.

„Die Wege entstehen im Gehen. Alfred Gusenbauer im Gespräch mit Katharina Krawagna-Pfeifer und Armin Thurnher“. Czernin Verlag, Wien 2008, 213 Seiten, 24,80 Euro