: Im Dazwischen zu Hause
In seiner aktuellsten Autobiografie präsentiert sich Nobelpreisträger Wole Soyinka als idealer Augenzeuge des postkolonialen Nigeria
Ausgerechnet Flughäfen. Diese Orte des Wartens, zwischen Ankommen und Weggehen, zwischen einem Land und dem anderen, gleichsam staatenlos. Es sind Räume des permanenten Dazwischenseins.
Ausgerechnet Flughäfen also stehen am Anfang und am Ende der Memoiren von Wole Soyinka. Der nigerianische Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker hat mit jenen Zwischenräumen eine Klammer gewählt, wie sie für seine Erinnerungen in „Brich auf in früher Dämmerung“ nicht besser passen würde.
Der heute 73-Jährige ist ein Meister des Dazwischenseins. Er hat diesen Zustand zum Prinzip erhoben – die titelgebende Dämmerung ist nur ein Ausdruck dafür. Soyinka, 1986 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, plädiert von jeher dafür, Dichotomien zu überwinden, sei es zwischen den Resten kolonialer Unterdrückung und postkolonialer Emanzipation, zwischen Eurozentrismus und Négritude-Bewegung oder zwischen Yoruba-Kultur und Christentum. Mit dieser Haltung steht Soyinka wie kaum ein Zweiter für die politische Bewegung Nigerias, für die Unabhängigkeit, für den Frieden im Biafrakrieg in den 60ern, gegen Militärherrschaften wie unter Diktator Ibrahim Babangida und Sani Abacha. Als Teil der Intelligentsia, die blieb und offensiv Haltung zeigte, verbrachte Soyinka mehrere Jahre hinter Gittern, unter Abacha ging er ins Exil. „In einer Gesellschaft, in der Kontrolle und Macht das Spielzeug von Imbezilen, Psychopathen und Karnivoren sind“, schreibt Soyinka, „birgt der bloße Akt des kritischen Denkens bereits das tödliche Gift in sich.“
Einen besseren Augenzeugen als Wole Soyinka findet man nicht, wenn man wissen will, welche koloniale Nachbeben in Afrika bis heute wirken. Wole Soyinka weiß um die Macht der Kritik in jenen postkolonialen Ländern – und die Gefahr, die damit einhergeht. In Nigeria ein Tanz auf dem Vulkan. Und Soyinka hat sich von Anfang an bewusst für diesen Tanz entschieden. Was diese Entscheidung für sein gesellschaftliches und literarisches Leben bedeutet hat, kann als Leitmotiv von „Brich auf in früher Dämmerung“ gelten. Schaut man sich Soyinkas Ouvre an, muss man den Eindruck bekommen, das aktuelle Buch sei nicht weniger als seine fünfte Autobiografie. So einfach ist das bei Soyinka aber nicht. Sei es „Aké“, „Isarà“, „Ibadan“ oder „Der Mann ist tot“, alle sind unter Soyinkas Diktum von „Faction“ geschrieben: Jenes „häufig missbrauchte Genre“, das, wie Soyinka selbst es formuliert, „versucht, Fakten und Ereignisse zu fiktionalisieren“. Seine Texte sind Zuspitzungen der Erkenntnis, dass Autobiografien zwangsläufig Fiktionalisierungen der Wahrheit sind.
Die aktuellsten „Erinnerungen“ können wohl als die umfassendste und faktennächste Version von Soyinkas Wahrheit bezeichnet werden: Jenseits strenger Chronologie erzählt er von seiner Zeit in Großbritannien, wo er in den 50ern studierte und am Londoner Royal Court Theater seine Karriere als Schauspieler und Dramaturg begann, über sein ständiges Hadern mit Nigerias Obrigkeit, für das er oft wissentlich sein Leben aufs Spiel setzte, bis hin zu seiner Exilzeit Ende der 90er und der endgültigen Rückkehr an den „Ort, den ich nie hätte verlassen sollen“. Wie gewohnt spielt Soyinka auch hier seine Stärke als Geschichtenerzähler aus und bindet die knapp 800 Seiten mittels unwiderstehlicher szenischer Schilderungen zusammen. Im Zentrum stehen die Menschen, die ihn und sein Denken lebenslang geprägt haben, sei es die Freundschaft zu Femi Johnson, Schauspieler und Broker, oder das zwiespältige Verhältnis zu Exstaatsoberhaupt Olusegun Obasanjo.
So wie Soyinka in seinen faktionellen Texten die Fusion von Fakt und Fiktion feiert, ist suspension charakteristisch für sein Werk insgesamt. Nicht umsonst gilt ihm Theater als „die revolutionärste aller Kunstformen“, sie steht für das Prozessurale einer Performance und kommt somit dem Ritus der „Vierten Ebene“ am nächsten. Als fourth stage wird jener Zustand des Übergangs bezeichnet, in dem nach Yoruba-Mythos Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Ahnen, Lebende und Ungeborene zusammenkommen. Chronologie wie Topologie sind hier aufgehoben, Wartesälen auf Flughäfen ähnlich. Flughäfen sind kein ungewöhnlicher Topos in der postkolonialen Literatur, dort, scheint es, fühlt man sich zwischen den Kulturen aufgehoben. Dank Soyinka ahnt man nun: Hier, im Dazwischen, kann Neues beginnen. ANNE HAEMING
Wole Soyinka: „Brich auf in früher Dämmerung“. Aus dem Englischen von Inge Uffelmann. Amann, Zürich 2008, 784 Seiten, 34,90 Euro