Erziehungsstelle statt Familie

Kinder, die nicht bei ihren leiblichen Eltern leben, kommen in Pflegefamilien, ins Heim oder einen Mix aus beidem: die Erziehungsstelle. Doch dafür fehlen Pädagogen, die zu Hause Kinder betreuen

von Eiken Bruhn

Die Stellenanzeige war nicht alltäglich. Nicht all zu oft werden Sozialpädagogen mit einer Annonce in der Wochenzeitung Die Zeit gesucht, und eher ungewöhnlich klang auch die Stellenbeschreibung: Gesucht wurde jemand für die „längerfristige Betreuung von drei Geschwisterkindern“ in einem dafür angemieteten Haus – und das „Tag und Nacht“. Ausgeschrieben hatte der „Einrichtungsverbund Bremer Erziehungsstellen“. Ulrich Kenkel, der für den Verbund arbeitet, erklärt, warum es schwer ist jemand zu finden. „Unsere Anforderungen sind hoch“, sagt der Sozialpädagoge, „und es gibt nicht viele, die bereit sind sich darauf einzulassen.“

Schließlich sei es nicht einfach ein Job, den man wechsle, sondern auch ein Teil seines Lebens: Ein neues Zuhause und drei halbwüchsige Jungen, von denen man nicht weiß, wie lange sie die Betreuung brauchen werden, ob sie möglicherweise wieder zurück zu ihren Eltern können. Ganz ausdrücklich, sagt Kenkel, geht es deshalb nicht um ein Eltern-Kind-Verhältnis. Dieser Unterschied zur Pflegefamilie wird bereits im Namen deutlich: Erziehungsstelle.

Nicht nur für die drei Geschwister sucht Kenkel dringend ErzieherInnen, die bereit sind, mit ihren Klienten zusammen zu wohnen, also zu Hause zu arbeiten. Auch wenn damit nicht immer ein Umzug verbunden ist – für diese Aufgabe lassen sich noch weniger Menschen finden als Pflegeeltern. Während in Bremen nach Auskunft der Leiterin von „Pflegekinder in Bremen gGmbH“ meistens jedes Kind in passende Pflegefamilien vermittelt werden kann, sieht das bei Erziehungsstellen anders aus. 20 bis 25 Kinder, so schätzt Kenkel, hätte das Amt für soziale Dienste in diesem Jahr gerne in Erziehungsstellen untergebracht, doch nur für fünf war Platz.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen wüssten professionelle ErzieherInnen anders als potentielle Pflegemütter und -väter ganz genau, mit wem sie es zu tun bekommen werden, glaubt Kenkel. „Das sind oft Kinder, bei denen man nichts persönlich nehmen darf“, sagt der Sozialpädagoge. Weder wenn sie freudestrahlend auf einen zulaufen, noch wenn sie sich abwenden oder aggressiv werden. Kinder, die als Säuglinge keine Bindungserfahrungen machen würden, unversorgt blieben, könnten dieses später nicht mehr nachholen, „denen kann man noch so viel geben, die werden nicht mehr satt“, sagt Kenkel. Er spricht aus Erfahrung: Seit 20 Jahren arbeitet er mit Kindern und Jugendlichen, die nicht bei ihren leiblichen Eltern leben. Helfen könne man den extrem verhaltensauffälligen Kindern nur noch, indem man mit ihnen soziales Verhalten trainiere, die fehlende innere Struktur mit einer äußeren ersetze, so dass sie als Erwachsene zurecht kämen.

Derzeit führt der Verbund 34 Erziehungsprofis, sie betreuen 56 Kinder. Ein Teil der Stellen ist mit Kindern aus dem Umland besetzt, ein Überbleibsel aus den Jahren, bevor Kevin gefunden wurde. Damals war die Maßgabe im Jugendamt, möglichst wenig Kinder aus ihren Familien zu nehmen, wenn es sich nicht vermeiden ließ, in den günstigeren Pflegefamilien unterzubringen. Die Erziehungsstellen gelten als „Heimaußenplätze“ und kosten entsprechend: rund 100 Euro pro Tag und Kind. Klare Kriterien, welche Kinder wo leben sollten, gebe es nicht, die Entscheidung werde individuell getroffen, so Kenkel. Als Rahmen gelte: Kleinere und verhaltensunauffällige Kinder eher in Pflegefamilien, Kinder, bei denen eng mit den leiblichen Eltern gearbeitet werden könne, eine Rückkehr möglich sei, in Erziehungsstellen. Um diesen Weg nicht zu versperren, legt der Verbund Wert darauf, dass keine konkurrierende Ersatzfamilie entsteht. Die Kinder halten sich nicht immer daran. Die eine Frau nennen sie „Mama“, die andere „Mutti“.