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Archiv-Artikel

Nonvirtuelles Netzwerk

In den Staatlöchern: Morgen gründen Bremer Künstler die temporäre Mikronation Ephmeristan in der Überseestadt

Lang und blutig ist die Geschichte der Nationen – länger noch, aber wesentlich unblutiger, die der Fantasiestaaten. Was bei Aristophanes Wolkenkuckucksheim hieß, findet sich heute mehrfach mutiert bei Tolkienfreunden als Mittelerde oder als Liechtenstein bei Anlageberatern wieder. Oder unter dem Flaggensymbol einer goldenen Karotte bei freischaffenden Bremer Künstlern als Ephmeristan.

So heißt ihre „temporäre Mikronation“, deren Territorium von morgen bis zum 31. August die Stauerei in der Überseestadt ist. Die Spielstätte des Jungen Theaters wird mit Fiebereifer auf den Empfang von Staatsgästen herausgeputzt. Bilder werden aufgehängt, Möhrenwimpel platziert, Gäste geladen und die Bar bestückt. Ein 850-stündiges Theaterstück soll entstehen, im Wechsel Künstler auf die Bühne kommen, gerne auch gemeinsam in neu geschlossener Freundschaft, vor möglichst vielen Touristen.

Was für ein Staat dann genau entsteht, wird sich im mehrwöchigen Spektakel erweisen, sagt Christina Vogelsang, die „graue Eminenz“ Ephmeristans. Sie empfängt persönlich. Außenministerin Sonja Funke weilt „zu Studienzwecken“ im diplomatisch noch unerschlossenen Göttingen. Ganz geschichtslos ist der junge Staat aber nicht, sagt Vogelsang. Vor einem Jahr hat sie in Tenever mit dem Autonomen Architektur Atelier ein kurz vor dem Abriss stehendes Hochhaus zur Spiel- und Wohnwiese für allerlei Lebensformen erklärt. „Sproutbau“ hieß das und entwickelte sich binnen 30 Tagen zu einer Art Antimuseum, in dessen Ausstellungsräumen die Künstler auch wohnten.

Auf soviel Hingabe rechnet man in Ephmeristan auch heute. Seine Bewohner sind „dazu bestimmt, Produktionen auf die Bühne zu bringen oder sich als Tresenkraft im Café zu engagieren“. Selbst schlafen kann man hier. Warum das Ganze eine Nation ist und nicht einfach eine Kommune? „Wir wollen unsere eigenen Gesetze und Regeln“, sagt Vogelsang – daher die Unabhängigkeitserklärung vom Rest Bremens, insbesondere von seinem „Prozedere von Kulturförderung“. „Wir wollen aber auch keine Anarchie.“ Eine Regel lautet: „Nicht kleckern, nicht klauen, nicht kloppen“. Diesen Merkspruch hat ein Kind in der Ephmeren-Runde mal als Etikette für eine Party vorgeschlagen, heute ist er Staatsräson.

Es gehe um den Pioniergeist, sagt Vogelsang, um die „Kleinkindfantasie, sein eigenes System zu begründen“. Augenzwinkernde Ämtervergabe und Tauschwirtschaft inklusive. Das kommt wie die Verlegung virtueller Netzwerke wie myspace in den realen meatspace rüber. Und wie dort geht es auch hier um die Identitätsfindung via Rollenspiel. Nur wer Verteidigungsminister werden will, kann zwar dankender Worte sicher sein, wird aber doch eher als Techniker angeheuert. Das Programm des 850-Stunden-Theaters steht zu einem Viertel. Der Rest soll spontan koordiniert und zur Aufführung gebracht werden. Staatsgründung ist am Sonntag um 14 Uhr. Auf der Agenda: Brunch, Live-Musik, die Ausstrahlung einiger Folgen der humoristischen Filmserie „How to start your own Country“ (für Ephmeristan so etwas wie die blauen Marx-Bände für die DDR) und die Gründungszeremonie samt Installation der Staatskarotte. Robert Best

www.ephmeristan.de, Alte Stauerei, gegenüber Speicher XI