: berliner szenen Nacktvorstellung
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„Findest du nicht auch, dass nackte Männer immer ein bisschen albern aussehen?“ Frieda und ich liegen am Ufer des Teufelssees. Die letzten Prüfungen stehen vor der Tür, aber bei der Hitze kann sich sowieso kein Mensch konzentrieren. Wir haben uns nicht ganz ausgezogen. Das ist zwar feige, aber Berlin ist kein Dorf, sondern eine Dorfkneipe und man weiß schließlich nie, auf wen man trifft.
Ich drehe mich auf den Bauch und folge Friedas Blick. Der weilt auf dem schlaffen Hintern eines älteren Herrn. Unten dünne weiße Beine, darüber speckiger Rücken, oben schmale Schultern. Er hat die rechte Hand in die Seite gestemmt und schaut auf den See hinaus. Frieda zieht nachdenklich die Augenbrauen zusammen, dass die Sonnenbrille auf ihrer Nase ein Stück tiefer rutscht. „Wenn Frauen dick werden, kriegen sie Arsch und Titten. Das ist doch was!“ Wir verfolgen eine braungebrannte Venus von Willendorf. „Bei Männern verlagert sich das gesamte Körperfett nach vorne.“ Der ältere Herr präsentiert sich nun im Profil. Er muss sich weit nach hinten lehnen, um seinen Körperschwerpunkt über dem Becken zu halten. „Wenn er wenigstens einen Ständer hätte!“, fügt Frieda kritisch hinzu. Ich bin entsetzt. Frieda winkt ab: „Rein ästhetisch, meine ich!“
Die Sonne brennt, wir gehen ins Wasser. Der Badeanzug ist nass, deshalb gehe ich oben ohne. Es gibt nichts Unerotischeres als Nacktheit, hat meine Oma immer gesagt. Ich stehe bis zum Bauchnabel im See, als der ältere Herr im wahrsten Wortsinn vor mir auftaucht. Entsetzt starren wir uns an: „Herr Professor!“, stammele ich. „Wir sehen uns Dienstag zu Ihrer Prüfung!“, sagt er. Ich weiß schon, was ich mir vorstelle, wenn ich nervös werde. LEA STREISAND