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Archiv-Artikel

Chinas kurzes Gedächtnis

Ein soeben beim Taschen Verlag erschienener Bildband könnte für China ähnliches Aufklärungspotenzial haben wie einst die Bilder des befreiten Auschwitz: „China – Porträt eines Landes“

VON GEORG BLUME

Ein roter Vorhang, ein roter Teppich, ein kleiner runder Tisch mit weißer Decke, auf ihm dicke Mappen mit Kalligrafien. An dem Tisch sitzen die beiden wichtigsten Führer Chinas im 20. Jahrhundert: Mao Zedong und Deng Xiaoping. Deng mit Hochwasserhosen und einem ihm viel zu großen blauen Mao-Jackett. Und Mao? Er tritt auf dem Foto in dem eben beim Taschen Verlag erschienenen Bildband „China – Porträt eines Landes“ – als zahnloser Greis auf. Seine Haare sind grau, seine Wangen eingefallen, sein Lachen zeigt die Gebisslücken.

Nie haben die Chinesen den Großen Steuermann in solchem menschlichen Verfall gesehen. Bis heute dürfen in China nur ansehnliche Mao-Bilder veröffentlicht werden. „Mao war ein Gott für die Chinesen, aber so wirkt er hier nicht“, sagt die chinesische Germanistin Liu Feng, als sie den Bildband im Pekinger taz-Büro durchblättert.

Lius Reaktionen auf den Band zeigen, welch einmaliges, zu großen Teilen unveröffentlichtes Bildmaterial der ehemalige Fotograf des US-Magazins Time, Liu Heung Shing, hier zusammengetragen hat. „Schauderhaft, schrecklich“, stöhnt Liu. Sie sieht zum ersten Mal Bilder von der Verfolgung der Großgrundbesitzer Anfang der 50er Jahre: Stolze Männer in langen Mänteln mit Bart – dem Tode geweiht. Sie schaut lange auf ein Bild von 1960: „Hier dreschen Bauern in der Provinz Henan Weizen von Hand“, lautet die Legende. Es ist das einzige Bild des Bandes aus der Zeit des „Großen Sprungs nach vorn“ (1959–1961), als Mao den Bauern befahl, ihre Arbeit niederzulegen und das Eisen ihrer Pflüge zu Fabrikeisen zu schmelzen. Daraus resultierte Chinas schlimmste Hungersnot des 20. Jahrhunderts. Sie ist nirgendwo auf Bildern gefangen, auch hier nur indirekt. Die Bauern auf dem Bild besitzen lediglich Holzwerkzeuge, sie werden von einer Frau mit Megafon angefeuert, der Weizen wirbelt durch die Luft. Hetze, Angst und Not sprechen aus den hilflos wirkenden Bewegungen der Landleute. „Theoretisch weiß man von der Grausamkeit all dieser Kampagnen gegen die Großgrundbesitzer, gegen die Rechtsabweichler, des Großen Sprungs nach vorn – aber man hat nie Bilder davon gesehen“, sagt Liu.

Zumindest für westliche Augen bekannter wirken die Aufnahmen von den Verfolgten der Kulturrevolution (1966–1976). Aber auch über die Grausamkeiten dieser Zeit hat Liu Heung Shing neues Material entdeckt. Er ist durch China gereist, von Fotograf zu Fotograf, und hat nach alten, unveröffentlichten Bildern aus privaten Sammlungen gefragt. „Wenn man zur staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua geht, rennt man sofort gegen die chinesische Mauer. Es gibt dort eine totale Beschlagnahme aller Bilder aus der Kulturrevolution“, erzählte der Fotograf kürzlich.

„Man kann sich den Fanatismus nicht mehr vorstellen, in den das ganze Land geraten war“, sagt Liu. Sie hat ein Bild des später rehabilitierten KP-Kaders Ren Zhongyi aufgeschlagen, wie er ein Schild mit der Aufschrift „Konterrevolutionärer Revisionist“ um den Hals trägt und den Kopf in Demütigung senkt.

Die Bilder sprechen für sich. Sie könnten ein Aufklärungspotenzial wie einst die Bilder vom befreiten Auschwitz haben, wenn sie einmal in China gezeigt werden dürften.

Liu selbst, Jahrgang 1966, sei als Kind gelehrt worden, dass sie verpflichtet wäre, die arme Bevölkerung vom Elend zu befreien. Sie habe als Grundschülerin selbst in bitterster Armut auf dem Land gelebt. Der Vater habe ihr immer gesagt, dass ihr Onkel Witwer und noch viel ärmer sei. Und was sagt ihr Vater heute? Er wolle immer noch nicht zugeben, dass Mao und sein System Schuld an der Armut gewesen seien, sagt Liu. Ihre Generation aber denke anders. Sie mache sich mit ihren alten Schulkameradinnen heute lustig über die damalige Zeit. „Es war einfach eine dumme Euphorie“, sagt Liu.

Aber auch die harmlosen Erinnerungen an die Mao-Zeit versucht die Zensur der KP heute aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen. Für sie gibt es nur noch den Befreiungskampf vor 1949 und die Reformperiode nach 1979. Die KP ist vorlaut, wenn es darum geht, das Vergessen der japanischen Kriegsverbrechen zu kritisieren. Aber sie hat das kürzeste Gedächtnis der Welt, wenn es die Verbrechen in der eigenen Geschichte betrifft. Liu Heung Shing hat dafür gesorgt, dass das nicht so bleiben muss.

GEORG BLUME, Jahrgang 1963, ist China-Korrespondent der taz Der Band „China: Porträt eines Landes“, ist im Taschen Verlag , Köln erschienen (424 Seiten, 39,99 Euro)