: „Der Westen gönnt uns die Spiele nicht“
Gleichheit statt Freiheit – dieses Diktum beherrscht das Bild Chinas im Ausland immer noch. Höchste Zeit, näher hinzusehen. Wie in diesen fünf Porträts
VON FELIX LEE
So fragwürdig es angesichts der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen war, die Olympischen Spiele an Peking zu vergeben – die Entscheidung ist gefallen, und nun wünscht man sich, dass die Menschen im Land mitfeiern können. Doch Überschwemmungen, Unruhen in Tibet, der mehrmals unterbrochene Fackellauf, vor allem das verheerende Erdbeben in der Provinz Sichuan und nun ein übernervöser Staat haben die Chinesen nicht unberührt gelassen.
Zwei Monate bin ich durchs Land gereist und habe mit Leuten gesprochen, die mir über den Weg gelaufen sind. Ich wollte wissen: Was denken die Chinesen? – und habe sie reden lassen. Repräsentativ ist diese Auswahl nicht – zu vielseitig und komplex ist das aufstrebende Riesenreich mit seinen 1,3 Milliarden Menschen. Und auch diese fünf haben nichts gemein. Nur eins ist mir aufgefallen: Ausgelassene Vorfreude auf die Spiele gab es bei keinem.
„Das Landleben ist nicht schön“
Cathy Song, 22, lebt und arbeitet in der südchinesischen Metropole Shenzhen. Aufgewachsen ist sie in einem kleinen Dorf in der Provinz Henan
„Klar, wir haben Regenzeit. Aber so schlimm habe ich es noch nicht miterlebt. Seit drei Monaten regnet es. Nicht nur ganz leicht, es regnet in Strömen. Ich weiß auch nicht, wie die Leute damit klarkommen. Die komplette Ernte ist dahin, wer auf dem Dorf wohnt und nicht in einem Hochhaus, watet knietief durchs Wasser. Aber irgendwie geht das Leben ja weiter. Ich wohne zum Glück mit drei Freundinnen im dritten Stock. Wir lassen den ganzen Tag über die Klimaanlage an. Das nimmt der stickigen Luft zumindest ein wenig die Feuchtigkeit. Unsere Fenster und Außenwände sind dennoch alle verschimmelt. Unser Geschäft wird durch den Dauerregen nicht vermiest. Ich arbeite fest in einer Einrichtung. Es gibt bei uns Spa und sogar eine Karaokebar. Ich bekomme einen festen Lohn von 1.400 Renminbi [rund 140 Euro] im Monat. So viel würde ich in einer Fabrik nicht verdienen. Wenn mal tagsüber nicht so viel los ist, dürfen wir auch die Karaokebar nutzen. Auf der Bühne bin ich unter allen meinen Kolleginnen immer der Star.
Ich habe schon als kleines Kind gut singen können. Ich möchte nicht für immer hier bleiben. So zwei, drei Jahre noch. In mein Heimatdorf möchte ich aber auch nicht zurück. Es gibt dort keine befestigten Straßen, die Häuser sind schlecht. Das Landleben ist nicht schön. Meine Eltern leben dort auch nicht mehr. Sie sind in die nächste Kreisstadt gezogen. Sie verkaufen dort Obst und Gemüse. Nach der Landreform haben auch meine Eltern ein kleines Stück Land zugewiesen bekommen. Sie haben es verpachtet. Geld kriegen sie davon nicht. Sie sind froh, wenn überhaupt jemand sich darum kümmert. Und außerdem haben die Pächter selbst nicht genug, um uns Pachtgebühr zu zahlen.
Vielleicht lerne ich über die Arbeit einen Mann kennen. Wie neulich. Er war aus Taiwan. Er hat zwar Frau und Kinder dort, das erzählte er mir, aber ich mochte ihn. Leider habe ich ihn nicht mehr wiedergesehen. Viele meiner Freundinnen haben über ihre Arbeit einen Mann kennengelernt. In Shenzhen gibt es zwar mehr Frauen als Männer, landesweit ist es aber umgekehrt. Ich könnte also eine große Auswahl haben.“
Prostitution in China boomt. Galt dieses Gewerbe unter Mao offiziell als abgeschafft, beschäftigt es heute wieder schätzungsweise zehn Millionen Menschen. Bei der letzten großen Kampagne gegen Prostitution gelang es der Zentralregierung, den wachsenden Wirtschaftszweig einzudämmen. Nach Berechnungen des chinesischen Ökonomen Yang Fan sank das chinesische Bruttoinlandsprodukt daraufhin um ein Prozent.
„In den Städten essen die Menschen nicht vernünftig“
Zhang Hao, 78, Rentner aus einem Dorf in der Provinz Guangxi:
„Ich hasse Städte. Früher bin ich öfter in Städten gewesen. In Schanghai, Wuhan, Peking, Guilin, Chongqing. Ich habe für einen Staatsbetrieb gearbeitet und Waschschüsseln verkauft. Seit zehn Jahren aber nicht mehr. Seitdem bin ich in keiner Stadt mehr gewesen. Diese vielen Hochhäuser, die großen Straßen, die vielen Autos, dieser Lärm! Woher ich das weiß? Ich sehe das ja im Fernsehen. Vor allem junge Leute treibt es in die Städte. Ich kann das nicht verstehen. Sie essen nicht vernünftig, es ist dreckig, und die Menschen sind unfreundlich.
Ich kriege das ja auch mit, wenn die jungen Frauen aus unserem Dorf an den Neujahrsfeiertagen aus den Städten zurückkommen. Sie sehen schlecht aus. Abgemagert und ganz blass. Ich sage dir, es liegt am schlechten Essen. Sie essen nicht genug Gemüse. Manchmal bringen sie auch Babys mit. Die überlassen sie den Großeltern. Ein Vater dazu fehlt dann häufig.
Meinen Sohn hat es auch in die Großstadt gezogen. Seit drei Jahren lebt er in Shenzhen. Ich wollte nicht, dass er geht. Aber er hat es getan. Nun werde ich ihn demnächst zum ersten Mal besuchen. Das Geld fürs Zugticket hat er mir bereits geschickt. Ansonsten hätte ich mir das nicht leisten können. 600 RMB [60 Euro] Rente kriege ich im Monat. Das ist schon nicht schlecht. Wenn die Ernte schlecht ist, kriegen die meisten anderen viel weniger. Zwei Kinder hat mein Sohn. Ich werde auf sie aufpassen. Wie lange ich bleiben werde, kann ich nicht sagen. Wenn ich es nicht mag, setze ich mich noch am gleichen Tag in den Zug und fahre zurück.“
Von den rund 1,3 Milliarden Chinesen leben immer noch etwa 70 Prozent auf dem Land. Die Chinese Academy of Social Science geht davon aus, dass das verfügbare Einkommen auf dem Land 2007 um 8,5 Prozent gestiegen ist. In den Städten liegt der Anstieg bei 12 Prozent.
„Wir sind für unseren Geschäftssinn bekannt“
Wu Zen, 28, Geschäftsführer von fünf Uhrengeschäften, Peking
„Nachmittags ab vier geht gar nichts mehr. Peking ist dann wie ein einziger Parkplatz. Ich komme mit meinem Auto nicht vor und nicht zurück. Da ich so viel meiner Zeit in einem Auto verbringe, habe ich mir letztes Jahr einen BMW gegönnt. 1.500.000 RMB [150.000 Euro] hat er gekostet. Ich liebe deutsche Autos.
Ich bin mal in der Schweiz gewesen. Alles war so klein und alt. Ich verstehe nicht, warum die Europäer auf alte Häuser stehen. Ich habe mir gerade eine neue Wohnung gekauft. Im 34. Stock. Alles ganz neu. Wenn es mal keinen Smog gibt, kann ich sogar die Westberge sehen. Seitdem die Regierung was gegen die Luftverschmutzung tut, passiert das häufiger. Im Badezimmer habe ich ein Massagebad eingebaut. Ich liebe Spa. Die Wohnzimmerwand ist komplett schwarz. Davor steht ein gigantischer Flachbildschirm. Das ist mein persönliches Geschenk an mich selbst.
Mir und meiner Familie ging es nicht immer so. Als wir 1988 nach Peking kamen, mussten wir noch unter der Brücke schlafen. Mein Vater hat damals angefangen, Uhren zu reparieren. Inzwischen besitzen wir zwei Dutzend Uhrengeschäfte vor allem in Peking und in Nordostchina. Wir verkaufen ausschließlich Schweizer Luxusuhren. Ich betreue vier Geschäfte in Peking.
Wir kommen aus Wenzhou, einer Hafenstadt in der Provinz Zhejiang. Vor der Stadt das Meer, dahinter hohe Berge. Die Stadt kann nicht expandieren. Vielleicht sind deswegen so viele von uns auf der Welt verstreut. Wir Wenzhou-Leute sind bekannt für unseren Geschäftssinn. Überall auf der Welt, wo es Chinesen gibt, findest du Leute aus Wenzhou. Wir Wenzhou-Leute halten zusammen. Das macht uns nicht gerade beliebt. Zum Beispiel sind die jüngsten Unruhen in Tibet auf der Wenzhou-Straße in Lhasa ausgebrochen. Viele von unseren Leuten haben dort Geschäfte.
Ich hänge nicht an Peking. Peking ist keine schöne Stadt. Und so wie meine Eltern will ich auch irgendwann wieder zurück nach Wenzhou. Wir haben dort schon mehrere Wohnungen gekauft. Auch ein Familiengrab haben wir vor Kurzem erworben.
Menschenrechtsverletzungen in China – die hat es immer gegeben. Wenn der Westen das ausgerechnet jetzt anprangert, drängt sich mir der Verdacht auf, dass der Westen uns die Spiele nicht gönnt. In dieser Hinsicht bin ich sehr patriotisch – und sehr enttäuscht vom Westen.“
Die Zentralregierung begreift Mittelstand als Gruppe derer, die inklusive Wohnung und Auto ein Vermögen von 100.000 bis 300.000 Euro und ein stabiles monatliches Einkommen von mindestens 500 Euro haben. Die chinesische Akademie der Sozialwissenschaften geht davon aus, dass heute grob geschätzt 150 Millionen Menschen dazu gehören, das sind etwa 20 Prozent der Bevölkerung. 2007 gab es in China rund 400.000 Dollarmillionäre.
„Zehn Länder in zwölf Tagen“
Li Feihua, 39, Abteilungsleiterin einer Softwarefirma, Tianjin
„Ich bin schon mal in Deutschland gewesen. In Kelong [Köln] und Duersiduofu [Düsseldorf] waren wir. Und eine Schifffahrt auf dem Laienhe [Rhein] haben wir gemacht. Mir hat das sehr gut gefallen. Deutschland ist so sauber und so grün. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Ich war mit einer Reisegruppe unterwegs. Allein dürfen wir Chinesen im Ausland nicht reisen. Und wir haben zehn Länder in zwölf Tagen abgeklappert. Alle Länder kriege ich, ohne nachzugucken, nicht mehr zusammen. Ich weiß aber: In Deutschland haben wir zwei Tage verbracht.
Ich reise sehr gern. Vor einigen Jahren konnten wir nur innerhalb von China reisen. Das fand ich langweilig, denn irgendwie ähneln sich chinesische Städte alle. Nun, wo wir in Gruppen auch ins Ausland dürfen, nutze ich all mein Gespartes und reise. Vor drei Monaten war ich in Thailand, fünf Städte in fünf Tagen, anschließend zwei Tage Strandurlaub in Pattaya. Das hat mir nicht so gut gefallen. Wir Chinesinnen mögen keinen Strand. Wir müssen uns sehr dick eincremen, haben Sonnenhüte auf und einen Regenschirm bei uns. Bei Männern ist es nicht so schlimm, wenn sie braun werden. Bei uns Frauen ist das aber sehr hässlich.
Ich arbeite für eine Softwarefirma und bin deswegen auch im Dienst viel auf Reisen. Meist innerhalb von China. Das nervt mich. Letzte Woche musste ich nach Hefei, der Provinzhauptstadt von Anhui, einer sehr armen Provinz. Hefei ist eine sehr hässliche Stadt. Es gibt noch viele alte Industrieanlagen aus Mao-Zeiten, und die meisten Menschen leben dort noch in diesen alten, einstöckigen Häusern aus Lehmziegeln. Man sieht den Leuten auch an, dass sie vom Wirtschaftsboom noch nicht viel mitbekommen haben. Sie laufen mit ihren eintönigen Klamotten herum wie die Leute vor zwanzig Jahren. Überhaupt hat mich Hefei sehr an die Achtzigerjahre erinnert. Ich bin froh, dass ich in Tianjin lebe. In Tianjin sind die Menschen wesentlich modebewusster.
Ich bin nicht verheiratet. Vor ein paar Jahren war das noch ein Problem. Denn ich hatte kein Anrecht auf eine eigene Wohnung. Vorletztes Jahr habe ich mit meinem selbst verdienten Geld jedoch eine Wohnung gekauft mit Blick auf den Tianjiner Hafen: zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche und zwei Bäder. Ich liebe meine Wohnung. Wären da nicht meine Eltern. Sie schämen sich, dass ich noch immer keinen Ehemann gefunden habe.“
Rund 500.000 chinesische Touristen sahen 2007 Deutschland, Chinesen geben ca. 1.800 Euro pro Auslandsreise aus.
„Natürlich will ich eine Familie gründen“
Liu Zhenping, 29, Ärztin in Ausbildung, Peking
„Ich habe meinem Mann erzählt, dass ich mal auf Frauen stand. Er hat sehr verständnisvoll reagiert und hatte überhaupt keine Probleme damit. Im Gegenteil: Er freut sich, dass ich vor ihm keine anderen Männer hatte.
Lesbisch zu sein ist in China nicht generell verpönt. Schwul sein dann schon eher. Solange wir irgendwann doch heiraten und eine Familie gründen, wird es als Jugendsünde abgetan, und damit hat es sich. Von meinen früheren lesbischen Bekannten kenne ich auch keine, die nicht irgendwann doch geheiratet hat. Natürlich fiel mir die Entscheidung schwer, nicht mehr eine Frau zu lieben. Aber ich bin froh über diesen Schritt. Mein jetziger Mann ist so verständnisvoll und so gut zu mir. Und natürlich will ich auch mal eine Familie gründen.
Ich habe meinen Mann im Studium kennengelernt. Er ist ebenfalls Arzt und arbeitet in einem Krankenhaus am Stadtrand. Ich brauche mit dem Bus fast eine Stunde, um ihn zu sehen. Wir sind beide wieder in Wohnheime gezogen. Nachdem wir geheiratet hatten, haben wir Anrecht auf eine gemeinsame Wohnung. Ein halbes Jahr haben wir zusammen in einer Wohnung gewohnt. Aber das war mit den täglichen Fahrwegen zu umständlich. Nun sind wir beide in unserem letzten Jahr. Und auch um Geld zu sparen, sind wir beide wieder ins Wohnheim gezogen. Nun teile ich mir mit fünf anderen Frauen ein Zimmer. Das ist schon okay so.
Wenn ich fertig bin mit meiner Ausbildung, will ich weg aus Peking. Ich würde gerne als Ärztin für einige Jahre in Tibet arbeiten. Ich bin dort schon mal zum Wandern gewesen. Die Berge in Tibet sind wunderschön. Ich möchte den Menschen dort gerne helfen. Sie sind sehr arm. Ob ich als Chinesin Angst habe in Tibet? Nein. Bei meinem letzten Besuch waren die Leute alle sehr freundlich zu mir. Und ich bin es ja auch.“
Bis 1997 galt Homosexualität in China noch als Straftat, bis 2001 wurden Schwule und Lesben noch in die Psychiatrie gesteckt. Nun ist die Zeit der Verfolgung vorbei. Mit dem Wandel der sozialen Struktur und des traditionellen Familienbildes entwickelt sich mehr Toleranz. Seit einiger Zeit wird auch von offizieller Stelle über die Legitimierung der Homoehe debattiert.
FELIX LEE, Jahrgang 1975, ist Redakteur im Berlinteil der taz. Er spricht fließend Chinesisch und versteht Kantonesisch – vor allem wenn Mütter mit ihren Kindern schimpfen. In dieser Sprache muss wohl seine Mutter früher mit ihm geschimpft haben