: Dieses eigenartige Jucken
Torsten Schulz’ Erzählungen in „Revolution und Filzläuse“ drehen sich um Berliner Alltagssituationen und halten es dabei mit der Ökonomie beim Drehbuchschreiben: Alles, was unwichtig ist, fliegt raus
VON LILLY JAECKL
Torsten Schulz, Drehbuchautor und Professor für praktische Dramaturgie an der HFF Potsdam-Babelsberg, hat bereits mit seinem Debütroman „Boxhagener Platz“ ein Stück Berliner Geschichte in unterhaltsame Prosa gefasst. Soeben wird das Buch unter der Regie von Matti Geschonneck verfilmt.
Mit den Erzählungen in „Revolution und Filzläuse“ geht der Filmautor nun einen Schritt weiter und lässt über vordergründig alltägliche Erlebnisse realer, einfacher Menschen seinen wahren Helden auftreten: Berlin, als das Rom des 20. Jahrhunderts.
Alle zwölf Geschichten verbindet ein Blick auf die Stadt, deren historische Großereignisse die Menschen geprägt haben. Torsten Schulz, selbst aufgewachsen in Friedrichshain, war bereits zu DDR-Zeiten als Autor tätig. Nun schafft er es, Kritik zu üben, ohne in Schubladen greifen zu müssen: Er entmachtet Ideologien, indem er sich auf die praktischen Lebenswirklichkeiten der Menschen, die mit den politischen Umständen im Kapitalismus wie im Kommunismus leben mussten, konzentriert. Besonders interessieren ihn dabei Dialekt, Humor und Mentalität der Berliner. Diese Eigenheiten präsentiert er hier so ganz anders als viele seiner Kollegen, denn er erspart uns dabei gängige Klischees und Sentimentalitäten.
Der Titel des Bandes, „Revolution und Filzläuse“ schwebt als programmatischer Leitsatz über den thematisch sehr unterschiedlichen Erzählungen. Große historische Ereignisse finden im kleinen, ganz Alltäglichen ihren Widerhall. Das menschliche Drama setzt sich aus heftigen Erschütterungen und kleinen Sachverhalten zusammen. Ein Grundsatz des Drehbuchschreibens lautet: „late in and early out“ – alles, was unwichtig ist, muss raus aus dem Skript. Hitchcock sagte dazu „Cut your babies first“, womit er meinte, dass ein guter Regisseur immer bei der Story bleibt und sich ständig von Szenen trennt, die ihm zwar persönlich am Herzen liegen, aber nicht unbedingt notwendig sind für die Geschichte. In „Revolution und Filzläuse“ beginnt jede Handlung sofort: Wer etwas wie, wann, wo und warum tut, wird in aller Kürze etabliert. Spannung entsteht durch unerwartete Situationen, die die Protagonisten zum Handeln zwingen.
So zum Beispiel in der Kurzgeschichte „Kino“, wo der attraktive Robert die selbstbewusste Lisa in einem Park anbaggert. Im Flirten ist er Meister, seine Quote beweist, dass er jedes dritte Mal erfolgreich ist. Und wenn mal eine mitgeht ins Kino, dann läuft im Dunkeln immer auch noch mehr. Lisa ist sofort bereit, ihn ins Kino zu begleiten. Wenig später sitzen die beiden aber nicht nebeneinander händchenhaltend im Kino, sondern stehen am Bett von Lisas todkranker Großmutter, die Lisa jahrelang nicht mehr gesehen hat. Lisas Oma war früher Widerstandskämpferin.
Schulz wendet das „Late in and early out“-Motto des Drehbuchschreibens auch in der Prosa an, wodurch er es schafft, dass die ausgetüftelte Konstruktion im Hintergrund für den Leser unsichtbar ist und dramatische Ereignisse mit viel Humor und Leichtigkeit erzählt werden. Und noch ein typisch filmisches Mittel findet Zugang ins Buch: Der Zeitsprung, den Schulz virtuos beherrscht und oft einsetzt, etwa in „Ein gutes Tandem“: Ein Icherzähler berichtet darin, wie er 1977 als junger Mann während der Ferien in der psychiatrischen Anstalt eines Krankenhauses in Ostberlin gearbeitet hat. Die Station wird geleitet von der kühlen Oberschwester Gerlinde und Doktor Weisenborn. Blickfang der Station ist aber Lotti Schmidt, die während der Nazizeit als Prostituierte gearbeitet hat und das Personal schon mal mit einem forschen „Heil Hitler“ begrüßt. Ein Jahr später: Doktor Weisenborn hat sich in den Westen abgesetzt und Lotti Schmidt ist gestorben. Noch lange beschäftigen diese Ereignisse den Icherzähler. Doch erst nach dem Fall der Mauer kann er die ganze Tragik dieser beiden Leben überblicken, die durch geheime, unerfüllte Liebe lebenslang miteinander verbunden waren.
Erzählerische Zeitsprünge finden sich auch in der titelgebenden Story „Revolution und Filzläuse“, in der der 21-jährige Thomas sich im Bordell von der Vietnamesin Nguyen entjungfern lässt, eine Reaktion auf den Frust seines erfolglosen Werbens um die hübsche Studienkollegin Nicole. Die ist mit Sam zusammen, einem amerikanischen Professor, der in jeder Stadt eine andere hat und am liebsten große Reden schwingt, vor allem über das kommunistische Kuba. Nach der Nacht mit Nguyen kommt dieses eigenartige Jucken. Nicole schläft mit Thomas. Sam, der nach dem Abschiedssex mit Nicole zurück nach Amerika fährt, um dort eine Geliebte zu treffen, spürt den Juckreiz auch schon. Zu hoffen bleibt am Ende, dass die kleinen Tierchen auch Regierungskreise erreichen und das konservative Lager der USA lahmlegen, was nach all den Geschehnissen, die in der Geschichte passiert sind, gar nicht mal so unrealistisch scheint.
Schulz’ Buch liest sich leicht und ohne Anstrengung und erzählt dabei sehr viel von Gefühlen, Bindungen und der Art, wie unterschiedlich Menschen mit ihrem Schicksal umgehen, im Positiven wie im Negativen. Verdrängtes wird plötzlich und völlig unerwartet an die Oberfläche gespült, und winzige Details erlangen politische Bedeutung. Erzählt wird das in einer Art, als ob man nach einem angenehmen Film das Kino verlässt und bemerkt, dass man mit seiner Begleitung bei dem Drink danach nicht nur leichter als sonst ins Gespräch gekommen ist, sondern nebenbei schon längst Händchen hält und immer näher aneinander rückt.
Torsten Schulz: „Revolution und Filzläuse“. Ullstein Verlag Berlin, 2008, 160 Seiten, 16 €