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Archiv-Artikel

Es gilt noch: Dabei sein ist alles

Immer mehr Sportler starten nicht mehr für ihr Geburtsland. Die Gründe sind immer andere. Aber zu den Olympischen Spielen wollen sie alle. Wie der deutscharmenische Gewichtheber Artyom Shaloyan

Shaloyan ist wie viele Olympioniken: Er ist unbekannt und er wird es auch bleiben

AUS PEKING RONNY BLASCHKE

Das weiße Talkum, das den Griff an der Hantelstange sicherer werden lässt, wirbelt auf. Artyom Shaloyan stößt einen lauten Schrei aus, er wuchtet die Last in die Höhe, sein Körper zittert, seine Adern treten hervor. Fünftausend Chinesen springen auf, kreischen, schwenken Fähnchen.

Eine Stunde später steht Shaloyan in der Interviewzone. Oft schubsen sich Reporter hier aus dem Weg, um ein paar Wortbrocken der Athleten aufzusammeln. An diesem Vormittag ist Platz für alle. Drei deutsche Journalisten interessieren sich für den Gewichtheber.

Er hat gestern keine Medaille gewonnen, er kam nicht mal unter die ersten Fünfzehn, aber das war schon vor seiner Abreise klar, er hatte nur einen Startplatz in der Gruppe B erhalten. Eine Reise zu den Olympischen Spielen ohne theoretische Medaillenchance? Ist das nicht wie der Besuch eines Sternerestaurants ohne Essen? „Das war mir egal“, sagt Artyom Shaloyan. „Ich war dabei. Es war der aufregendste Tag meines Lebens.“

Dabei sein ist alles. Manchmal stimmt es eben doch noch, das alte olympische Leitmotiv. Artyom Shaloyan, 32, wirkt sogar im Interview ein wenig nervös, hin und wieder verschluckt er seine Worte, er wird nicht oft nach seiner Geschichte gefragt. Dabei hat er mit vielen Olympiateilnehmern etwas gemein: Er ist unbekannt, und er wird es auch bleiben. Die Öffentlichkeit nimmt den Basketballstar Nowitzki wahr, den Turner Hambüchen, die Schwimmerin Steffen, vielleicht die Handballer oder die Fußballerinnen, aber Shaloyan? Der kleine Athlet, 69 Kilo schwer, jungenhaftes Gesicht, schwimmt in der Masse. Wer seinen Namen liest, könnte ihn für einen Söldner halten, wer seine Sportart beobachtet, könnte eine Verbindung zum Doping knüpfen. Und trotzdem ist er eine Symbolfigur.

Artyom Shaloyan wurde in Gjumri geboren, in der zweitgrößten Stadt Armeniens. Als er neun Jahre alt war, lud ihn sein Nachbar zum Probetraining ein, er betreute viele junge Heber. Jeden Tag schaute der Trainer bei seinen Eltern vorbei, um zu kontrollieren, ob sie das Richtige für ihren Sohn kochten. Der Trainer kam beim großen Erdbeben 1988 ums Leben. Artyom Shaloyan fiel in ein Loch, doch er machte weiter. Und wurde in seiner Heimat berühmt. Die Armenier vergöttern ihre Heber so sehr wie ihre Fußballer. Wenn er von der Polizei angehalten wurde, durfte er zwanzig Sekunden später ohne Strafzettel weiterfahren. Artyom Shaloyan hatte ein gutes Leben, doch es hätte besser sein können.

Sein Schwager, ein Ringer in Schifferstadt, lud ihn 1994 nach Deutschland ein. Artyom Shaloyan lernte die Verlässlichkeit zu schätzen. Er wollte nicht zurück in das politisch und wirtschaftlich labile Armenien, aber ihm blieb keine Wahl. Ein Gesetz besagte, er müsse erst seinen Militärdienst leisten, bevor er auswandern könne. Shaloyan ging zur Armee, lernte Deutsch und zog 1997 mit seiner Frau nach Altrip in Rheinland-Pfalz. Der armenische Nationaltrainer nahm ihm das übel, er nominierte Shaloyan nicht mehr für die Weltmeisterschaft, obwohl er der Beste war.

Artyom Shaloyan würde sich nie beschweren. Er kennt die Geschichten des Basketballers Chris Kaman oder der Fußballer Sean Dundee und Paulo Rink, die im Eilverfahren eingebürgert wurden, um die deutschen Nationalteams voranzubringen. Shaloyan ist dreimal durch die halbe Republik nach Berlin gefahren, um im Konsulat für sich zu werben. Acht Jahre musste er warten, bis er einen deutschen Pass erhielt. Damals war seine Erleichterung groß, nicht etwa, weil er nun für Deutschland heben konnte, sondern weil sich die Lebenssituation für seine zwei Kinder erleichtern würde.

Die Geschichte von Artyom Shaloyan spiegelt die Lebensumstände deutscher Einwanderer eher wider als die von Chris Kaman. 32 der knapp 440 deutschen Olympiateilnehmer wurden im Ausland geboren. Viele von ihnen mussten große Strapazen auf sich nehmen, der Boxer Rustam Rachimow zum Beispiel, geboren in Tadschikistan, setzte sich 1995 bei der Weltmeisterschaft in Berlin von seiner Mannschaft ab und beantragte in Deutschland Asyl. Sieben Jahre durfte er nicht bei Meisterschaften kämpfen, bis er 2002 eingebürgert wurde. „Der Lebensstandard in Deutschland ist viel höher“, erzählt Artyom Shaloyan. „Ob man Profisportler ist oder nicht.“ Bei der Fußballeuropameisterschaft im Juni traten viele multiethnische Mannschaften auf, sechs gebürtige Brasilianer nahmen am Turnier teil. Der Unterschied: In den Randsportarten sind die Behörden für ein Schnellverfahren weniger kooperativ.

Artyom Shaloyan zieht mit seinem rechten Zeigefinger eine Linie von Kinn zum Bauchnabel. Er sei halb deutsch, halb armenisch. Viele seiner Freunde würden gern wie er leben. Vierzimmerwohnung, berufliche Perspektive, gute Ausbildung. Shaloyan ist Sportsoldat, zu Hause hebt er für den AV 03 Speyer, nach seiner Laufbahn möchte er Sportmanagement studieren und eine Trainerausbildung machen. Seinen olympischen Wettkampf in der Gruppe B wird er nie vergessen. Nur die Eröffnungsfeier hat ihn traurig gestimmt: Sein Trainer hatte ihm die Teilnahme im Stadion verboten. Gewichtheber dürften nicht so lange herumstehen, das sei schlecht für die Beinkraft.