: Entzaubert
Was ist der Mensch? Joachim Fischers großes Buch über „Philosophische Anthropologie“
VON KERSTEN SCHÜSSLER
Von Ideologien sei wenig zu erwarten, außer, dass sie zusammenbrächen. So ungefähr lautet ein Bonmot der Philosophischen Anthropologie, die im ideologischen 20. Jahrhundert über das Wesen des Menschen nachdachte und dabei kaum bemerkt wurde. Dass sie seit dem Zusammenbruch der Ideologien wieder mehr Resonanz erfährt, ist auch ein Verdienst des Dresdner Soziologen Joachim Fischer. Er hat dieser Denkrichtung neben vielen Aufsätzen und Veranstaltungen nun ein exzellentes Buch, ja ein Standardwerk gewidmet.
Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Erich Rothacker und Adolf Portmann entdeckten seit den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts den Menschen als Bio-Wesen, als Teil der Natur, der, um zu überleben, sich eine zweite Natur schaffen muss: Kultur. Der biologische Blick zeigt: Menschen sind zwar organisch wie Pflanzen und Tiere, aber ohne natürliche Nische. Emotional aufgebrochen und nach Sinn suchend (Scheler), gebunden an ihren Körper als Lebenszentrum, aber zugleich ex-zentrisch über ihn hinausdenkend (Plessner); Menschen finden Halt in kulturellen Bildern (Rothacker), kompensieren ihr Dasein als Mängelwesen in Institutionen (Gehlen); doch diese Konstruktionen sind brüchig. Menschen finden also ihren Weg, aber kein Ziel. Es ging den Begründern der Philosophischen Anthropologie um eine „rationale Wende zum Leben“, um eine Philosophie der Biologie, die sich systematisch zu anderen Wissenschaften wie auch zur Politik öffnet. Das macht sie für das postideologische 21. Jahrhundert attraktiv, wo etwa die Genomforschung drängende Fragen nach dem Wesen des Menschen aufwirft.
Das frühe Gravitationszentrum der Philosophischen Anthropologie ist Max Scheler in Köln. Ein geradezu verschwenderischer, sich verzehrender Denker und Anreger, kommt Scheler kurz vor seinem Tod 1928 nur noch zu einer schmalen Schrift über „Die Stellung des Menschen im Kosmos“. Den Rest besorgt zeitgleich als Mitgründer der Denkrichtung Helmuth Plessner, der, in akademisch prekärer Lage, die Gedanken Schelers mit eigenen und anderen zum ersten großen Entwurf der Philosophischen Anthropologie genial verwebt. Für „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1928) wird er lebenslänglich als Plagiator des früh verstorbenen Scheler diffamiert. Arnold Gehlen bringt 1940 fast ohne Bezug auf die beiden sein Hauptwerk „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt“ heraus. Rothacker und Portmann kommen etwas später auf je eigenem Weg zur Philosophischen Anthropologie. Alle aber halten Distanz zueinander. Die Philosophische Anthropologie wird keine Gruppenstudie, eher ein offenes und ortloses Projekt.
Und es gibt viele Nebenfiguren. Fischers dem Ethos der Sachlichkeit verpflichteten Haupttext tritt eine Parallelgesellschaft in Fußnoten gegenüber, die zuweilen luziden Gossip bietet. Über Heidegger etwa, der bei Schelers zu Hause zunächst mit dem Elektriker verwechselt wird und anschließend über seine Philosophie der „Lichtung“ spricht.
Wie Heidegger antichambrieren auch Rothacker und Gehlen beim Nationalsozialismus, doch nicht aus dem Kern ihrer Werke heraus. Plessner dagegen, ins niederländische Exil getrieben, schlüpft dort bei dem Verhaltensforscher Frederik Jacobus Johannes Buytendijk unter; beide steuern bald spieltheoretisch inspirierte Überlegungen zur Philosophischen Anthropologie bei. So formiert sich der Ansatz vor 1945 unter widrigen Umständen, gerät dann in Turbulenzen, bevor er sich in den 50ern konsolidiert. Plessner und Gehlen wirken in der jungen BRD als Soziologen, ihre Philosophische Anthropologie wird eine für viele Richtungen anschlussfähige Basistheorie. Während für Gehlen die „Seele im technischen Zeitalter“ nur durch rigide Ordnungen zu retten ist, gibt Plessner – bei aller Utopie-Kritik – eher den liberalen Ironiker. Zivilisation ist ihm Rollenspiel in demokratischer Öffentlichkeit, Menschenwürde eine Frage der freien Selbstentfaltung nicht nur in der politischen Arena, sondern auch in den Sphären von Kunst und Sinnlichkeit. Lächelnd beweist der Mensch seine Souveränität, meint Plessner. Jürgen Habermas, profiliertester Kritiker der Philosophischen Anthropologie, antwortet ihm: Nein, sprechend! Als das Gespräch zwischen diesen beiden in den 70ern scheitert, ist auch die Philosophische Anthropologie als Denkrichtung im Niedergang begriffen. Sie setzte weniger auf ernsthafte Utopie als auf Entzauberung und – in Plessners Fall – auf Ironie, den im Abstand vom Ernst gewonnenen Ernst als Privileg des Menschen.
Joachim Fischer baut der Philosophischen Anthropologie eine große Bühne, auf der auch noch die ihr entferntesten Denker wie Niklas Luhmann einen Auftritt bekommen. Diese Großzügigkeit ist vielleicht ein wenig zu gut gemeint, aber ungemein anregend.
Joachim Fischer: „Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts“. Verlag Karl Alber, Freiburg 2008, 688 Seiten, 48 Euro