: Die Heimatbauer
Wollseifen: Heute leben noch etwa 180 gebürtige Wollseifener. Jahre nach der Räumung des Dorfes erhielten sie den „Flüchtlingsausweis C“, der üblicherweise Vertriebenen aus dem Osten ausgestellt wurde. Aus Angst vor Enteignungen stimmten sie in den 50er-Jahren dem Verkauf ihrer Grundstücke zu ausgesprochen niedrigen Preisen zu. Bis heute fühlen sie sich um ihr Eigentum betrogen. Den Wiederaufbau der Kirche finanzieren sie durch Spenden und mit Geldern der NRW-Stiftung. Der Bund beteiligt sich nicht. Die Verwaltung des Nationalparks Eifel will die militärischen Übungshäuser bis auf eines abreißen und die Flächen rund um den Ort der Natur überlassen. Vogelsang: Die ehemalige „NS-Ordensburg“ soll unter dem Namen „Forum Vogelsang“ zu einem Bildungs- und Informationszentrum ausgebaut werden. An dem Architektenwettbewerb beteiligt sich unter anderem das Studio von Daniel Libeskind. Für neue Gebäude und die geplanten Ausstellungen stehen 16,7 Millionen Euro zur Verfügung. LB
AUS WOLLSEIFEN LUTZ BERNHARDT
Fritz Sistig ist ein großer Mann mit einem breiten Kreuz und wuchtigen Händen. Es wirkt, als rage er hier oben auf der Dreiborner Hochfläche wie ein Baum in den übellaunigen Eifelhimmel, wo die Wolken tief hängen und Nieselregen die Landschaft in Schleier hüllt. Fritz Sistig, bald 80 Jahre alt, greift im Kofferraum seines blauen Kombis nach Spitzhacke, Hammer und Meißel und macht sich auf den Weg zur Kirche. Heute wird in St. Rochus der Putz von den Wänden geschlagen.
Sistig sagt immer noch St. Rochus, obwohl die Kirche von Wollseifen bereits vor Jahrzehnten vom Bistum Aachen entweiht worden ist. Er kommt oft dreimal in der Woche hierhin und hilft bei ihrer Restaurierung. Aus dem ehemaligen Gotteshaus soll eine Gedenkstätte werden – zur Erinnerung an das Schicksal des Dorfes und seiner Bewohner. Fritz Sistig geht es mehr darum, seine alte Kirche zu erhalten, denn außer diesen Mauern und der alten Dorfschule ist von seiner Heimat nichts mehr übrig. Wollseifen, erstmals urkundlich im 12. Jahrhundert erwähnt, ist auch kein Dorf mehr, sondern wird offiziell als Wüstung bezeichnet. Der Ort sieht wüst aus: in der Mitte die Kirchenruine, vereinzelte kleine Gebäude und eine Zeile von Häusern, die sich beim näheren Hinschauen als Attrappen entpuppen. Zweigeschossig, aus weißem Stein, mit Flachdächern. Sie wachen wie Totenschädel über das hügelige Land, die leeren Fensteröffnungen starren ins Karge. Die Häuser wurden von Soldaten gebaut, um hier den Nahkampf zu üben. Da war das Dorf schon dem Erdboden gleichgemacht.
Fritz Sistig ist einer von etwa 180 noch lebenden Wollseifenern, die mit Millionen anderen Menschen das Schicksal der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg teilen. Allerdings mit dem Unterschied, dass Wollseifen in Westdeutschland durch die britischen Alliierten geräumt wurde. Die Befreier verscheuchten die Bevölkerung, weil in unmittelbarer Nähe des Dorfes die Nazis die kolossale Parteischule „Ordensburg Vogelsang“ gebaut hatten. Und diese 100-Hektar-Anlage von Prora-Architekt Clemens Klotz bot Platz für die Stationierung mehrerer tausend Soldaten. Mit der Einrichtung des Truppenübungsplatzes durch die Britische Rheinarmee wurde auch Wollseifen militärisches Sperrgebiet, denn das Dorf war für die neuen Herren von Vogelsang ein idealer Schießstand.
Die Erinnerungen sind ein Menschenleben alt, aber Fritz Sistig hat noch jedes Detail vor Augen. Am 13. August 1946 kam für die 120 Familien der Räumungsbefehl. Vor St. Rochus sollten sie sich nach dem Hochamt versammeln. Der von den Alliierten eingesetzte Bürgermeister machte nicht viele Worte. Drei Wochen hatten sie, um ihre Sachen zu packen. Dann musste alles raus sein: die Menschen aus den Häusern, das Vieh aus dem Stall, die Frucht vom Acker. Da standen sie: Fritz, damals 17 Jahre alt, und seine Freunde Rudi und Heribert im Sonntagsstaat, der Dorfpfarrer, die Männer und Frauen des Ortes. Wild gestikulierend, schimpfend, verzweifelt. Gerade hatten sie die Kriegsschäden beseitigt, hatten jeden Nagel, jeden guten Stein aus den Trümmern gerettet und jetzt sollten sie das alles zurücklassen?
62 Jahre später stehen Fritz Sistig, Heribert Keutgen und Rudi Breuer wieder am Eingang der Kirche, die Rentner sind immer noch Freunde. Die Männer tragen alte Hosen, Pullis, Westen und feste, matschverklebte Schuhe. Es tropft durch das Gebälk auf Heriberts Bauernhut. Sie erzählen von ihren blauen Matrosenanzügen, damals bei der Kommunion, wie sie durch den Mittelgang schritten. Wo sich jetzt das Wasser in dreckigen Pfützen sammelt. Manchmal durften sie die Glocken läuten. Dann hielten sie sich an den Seilen fest und flogen bis in den Turm. „Und genau hier“, zeigt Fritz Sistig auf ein Stück nacktes Mauerwerk, „da stand ‚Der Mensch lebt nicht vom Brot allein‘.“
„Der Fritz hat mich angelernt beim Messdienen. Und dann hat er mich in den Schrank gesperrt in der Sakristei“, sagt Rudi Breuer, einen Kopf kleiner als Fritz, und alle müssen lachen. Ein Lausbubenlachen. Heribert reicht einen Pappbecher mit Wacholderschnaps, zur Stärkung.
Vieles hatten diese Männer verdrängt, bis sie wieder zurückdurften. „Ich träume nachts davon, wie wir rausmussten“, sagt Rudi. Die anderen schweigen. „Ja, bei euch etwa nicht?“ Doch, bei den anderen auch.
„Der Engländer“ stellte vier Lkws, und aus den umliegenden Gemeinden wurde alles, was Räder hatte, nach Wollseifen kommandiert. Dann begann der große Auszug. Die Sistigs hatten Glück und kamen in einem Nachbarort in einer alten Gaststätte unter. Insgesamt 550 Menschen wurden in Turnhallen, Klassenzimmer und alte Scheunen gesteckt. Und während Fritz’ Vater und viele der Älteren noch darauf hofften, bald wieder zurückzudürfen, begannen die Briten mit dem Beschuss. Keine zwei Jahre nach Kriegsende. „Wir konnten dabei zuschauen, wie sie mit ihrer Artillerie über Kilometer hinweg auf die Kirche donnerten“, erzählt Fritz. Nachts erhellte das brennende Dorf die Dunkelheit. Der Frieden in Wollseifen flackerte orangerot.
Auf verwilderten Wehrmachtspferden preschten Fritz und einige andere über die Hochebene: „Mit Ledereimern, die hatten wir den Tommys geklaut.“ Aber nach dem dritten, vierten Übungsschießen mit Phosphorgranaten machten die Löschversuche keinen Sinn mehr. Was noch verwertbar war, packten die Männer auf Karren: Heizkörper und Öfen, Türen, Stahlträger, Blausteinplatten. Nach und nach wurden die nächtlichen Besuche weniger. Es gab nichts mehr zu retten. Anfang der 50er-Jahre lösten belgische Truppen die Briten ab. Bis 1955 war es den Wollseifenern dann noch einmal im Jahr erlaubt, den Friedhof besuchen. Bis auch die Toten auf die Nachbardörfer verteilt wurden – wie zuvor die Lebenden. Danach war Schluss, das Gebiet wurde weiträumig gesperrt.
Eine Motorsäge knattert. Heute sind viele Helfer hier. Sie sind entweder in Wollseifen geboren oder gehören zur Nachkriegsgeneration und kennen das Dorf noch aus den Geschichten ihrer Eltern und Großeltern. Die Männer machen sich an die Arbeit. Sie hämmern den brüchigen Putz von der Wand, werden eingehüllt vom Staub der Jahrhunderte, Steinchen fliegen durch die Luft. Die Mauern sollen später nur verfugt werden. Im Langschiff steht jetzt noch ein großes Gerüst. Wenn Dach und Innendecke fertig sind, wird es abgebaut und dann kann der Schutt vom Boden gekratzt werden, darunter liegen noch die alten Pflastersteine. Später, wenn die neuen Fenster eingesetzt sind, soll hier ein großes Modell des Dorfes aufgebaut werden, das Wollseifen in seinem Zustand um 1936 zeigt. Geplant ist, die Gedenkstätte mit einer Messe am St.-Rochus-Fest einzuweihen.
Fritz Sistig fällt es schwer, zu beschreiben, warum er diese Schufterei auf sich nimmt. Er tue das auch für seine Eltern, die Wollseifen nie wieder gesehen haben. Eigentlich hat er sein ganzes Leben lang versucht, ein Stück Heimat zu bewahren. Er trat in den Traditionsverein ein, der zunächst die Aufgabe hatte, die in alle Himmelsrichtungen verstreuten Freunde und Verwandten auf dem Laufenden zu halten. „Das war ja nicht wie heute. Es gab kein Telefon, und Briefe waren wochenlang unterwegs“, sagt Sistig, der 1954 eine Gaststätte in Gemünd eröffnete und später mit seiner Familie ein Hotel führte. Vor allem drängten die Vereinsmitglieder auf eine Klärung ihrer Besitzverhältnisse. Als zehn Jahre nach der Räumung nur spärliche Entschädigungszahlungen geflossen waren, sammelten sich 150 Männer, Frauen und Kinder für einen „Marsch auf Wollseifen“. Mit falschen Versprechungen durch die Landesregierung wurden sie beschwichtigt und so fiel die Aktion aus. Der Streit um die Zahlungen ging weiter, und die Wollseifener legten sich mit dem Bundesrechnungshof und der Oberfinanzdirektion Köln an. Schließlich scheiterten sie 1975 vor dem Petitionsausschuss des Bundestags mit einer letzten Forderung nach höheren Abfindungen.
„Danach hatte ich mit dem Thema abgeschlossen. Wir alle“, sagt Sistig. Wenn er über diesen langen, bürokratischen Kampf nachdenkt, wandern seine hellen Augen durch den Altarraum und die Züge werden für einen Moment hart. „Beschissen haben sie uns!“, zischt er. Und Heribert, der in der Tradition seiner Familie wieder einen Bauernhof aufgebaut hat, fügt hinzu: „Alle deutschen Regierungen haben uns im Stich gelassen.“ Eine Entschuldigung hat es nie gegeben.
„Gehen wir mal zum Haus“, sagt Fritz Sistig und tritt ins Freie. Er lässt die Kampfhäuser links liegen und folgt einem Weg, der von Linden gesäumt ist. Wenn er so mit seiner neuen Hüfte über das Gelände geht, dann stockt ihm manchmal der Atem. Jeder Backstein im nassen Gras eine Erinnerung. Er deutet auf ein unebenes Stück Wiese, groß wie ein halbes Fußballfeld. „Hier stand unser Haus. Da war die Treppe, vier Stufen hoch in den Laden.“ Sein Zeigefinger wandert mit, während er erzählt. Mit acht Schwestern sei er groß geworden, deshalb habe er ein eigenes Schlafzimmer gehabt. Das war im Dorf etwas Besonderes.
Der Regen hat für einen Moment aufgehört. Von hier aus kann Fritz Sistig über die Hochebene auf den Nazi-Bau schauen. Vogelsang ist heute ein Touristenhighlight des Nationalparks. Wanderwege verbinden die Burg mit Wollseifen. Mit fünf durfte er seinen Vater zur Grundsteinlegung der Nazi-Burg begleiten. Es gab Berliner, die hatte er vorher noch nie gegessen. „Der Vogelsang war unser Untergang“, sagt er ruhig und ohne jedes Pathos.