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Archiv-Artikel

In einer komfortablen Diaspora

Barbara Honigmann entdeckt den Himmel über New York und eine selbstverständliche Heimat für Juden: „Das überirdische Licht“

VON JÖRG MAGENAU

Man muss dieses Buch vom Ende her lesen: Da vernichtet die Erzählerin alle Erinnerungsstücke, die sich im Lauf ihres zehnwöchigen New-York-Aufenthaltes angesammelt haben. Es ist eine wahre Orgie, die weder Haarshampoo noch Wollhandschuhe verschont. Nur das Notizbuch bleibt übrig als Erinnerungshilfe für das Schreiben.

Barbara Honigmann, die mit ihrer Ich-Erzählerin durchaus gleichzusetzen ist, erneuert mit dieser Szene eine familiäre Grundhaltung. 1949 in Ostberlin geboren, wuchs sie in einer kommunistisch geprägten Familie auf, in der die jüdische Herkunft keine Rolle spielen sollte. Der Vater, so berichtet sie, habe zeitlebens vorwiegend in Hotels gewohnt und sich mit keinerlei Gepäck beschwert, als müsse er jederzeit fluchtbereit bleiben. Auch die aus Bulgarien stammende Mutter war eine überzeugte Spurenvernichterin, wie Honigmann in ihrem Roman „Ein Kapitel aus meinem Leben“ erzählte. Nun will sie selbst nichts zurücklassen, um sich damit den nötigen Freiraum fürs Schreiben zu schaffen. So autobiografisch ihre Bücher wirken, so legt sie doch Wert darauf, auch Erinnerungen erfinden zu können. Erst aus der Differenz zwischen dem gelebten Leben und dem, was dann auf dem Papier daraus wird, kann so etwas wie Freiheit entstehen.

1984 emigrierte Barbara Honigmann aus der DDR nach Straßburg und schloss sich dort der jüdischen Gemeinde an. Es war, wie sie immer wieder betonte, eine „Rückkehr in die Fremde“, ein „dreifacher Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten hinein ins Thora-Judentum“. Der New-York-Aufenthalt, der durch ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds möglich wurde, verlängert diese Bewegung. Deshalb ist im Untertitel erneut von einer „Rückkehr“ die Rede. New York ist zwar eine fremde Stadt, die mit ihrer schieren Größe, ihrem Menschengewimmel und ihrem 24-stündigen Gelärme der Provinzlerin aus Straßburg alles abverlangt. Und doch entdeckt sie hier immer wieder den Osten im Westen und wird auf ihre Herkunft aus der DDR zurückgeworfen, die sie doch so gerne abschütteln würde. Sie trifft eine Freundin aus alten Ostberliner Tagen wieder und verwandelt sich mit ihr in die Studentin zurück, die sie einmal war. All die anderen Rollen, die sie angenommen hat – Ehefrau, Mutter, Schriftstellerin – fallen von ihr ab.

Vor allem aber bietet New York vielfältige Möglichkeiten jüdischen Lebens, die sie neugierig erkundet: Da sind die alten deutschstämmigen Jüdinnen in Washington Heights, sogenannte child survivors, die sich für Deutschland so gar nicht mehr interessieren. Da sind die Chassiden in Williamsburg, die „Leute von Brzezan“ in der Lower East Side, die für den Erhalt ihrer „Shul“ als Gemeindezentrum kämpfen, oder die jungen, hippen Juden, die sich „heeb“ nennen: „ein Anagramm des früher geläufigen Schimpfworts ‚hebe‘, so wie sich viele Schwarze ja auch mit neuem Selbstbewusstsein selbst ‚Nigger‘ nennen“. Honigmann trifft entfernte Verwandte – einen orthodoxen Cousin und eine uralte Tante aus gutbürgerlichem Breslauer Elternhaus, deren grauenhafteste Kindheitserinnerung darin besteht, dass Honigmanns Vater einmal aus ihrem Zahnputzbecher trank. „Mein Gott, setzte sie dann hinzu, ich konnte ja nicht ahnen, zu was für grauenhaften Dingen wir noch ausersehen waren.“

„Das überirdische Licht“, das diesen essayistischen Streifzügen den Titel gab, ist zunächst ganz wörtlich zu nehmen: Der azurblaue Novemberhimmel über New York strahlt heller „als in irgendeiner Provence“. Doch er lässt sich auch metaphorisch deuten, als Hinweis auf einen paradiesischen Zustand: auf selbstverständliche Weise als Jüdin zu Hause sein zu können. In New York ist das möglich, was Honigmann in all ihren Büchern angestrebt hat: ein jüdisches Leben, das sich nicht negativ aus dem Holocaust definiert, sondern positiv aus seiner religiösen Haltung und einer nur schwer greifbaren Zusammengehörigkeit. Sie sei Jüdin und lebe in Frankreich, sagt Honigmann, wenn sie sich vorstellt. Den Hinweis, sie stamme aus Deutschland, lässt sie bald weg, weil er zu unnötigen Komplikationen führt.

Zu ihrem gegenwartsorientierten Judentum passt die Aversion gegen Gedenkstätten, die sie in der DDR erworben hat. „Ground Zero“ ist ein Ort, den sie meidet. „Da wollte ich überhaupt nicht hin, wie ich alle Gedenkorte meide, seit wir mit der Schulklasse Buchenwald besichtigt haben; eine größere Peinlichkeit und Falschheit habe ich in meinem ganzen Leben nicht mehr erlebt. Ich weiß einfach nicht, was ich an einem Gedenkort machen, wie ich stehen, wohin ich gucken und was ich tun soll.“ Deshalb ist New York so ein wunderbarer Ort: Die Menschen mit ihren Geschichten sind da und können erzählen. Doch das Leben ist auf die Gegenwart ausgerichtet. Das Judentum findet nicht im Museum statt. Doch die latente Wachsamkeit der Gepäcklosen bleibt auch hier bestehen. „Wer weiß“, sagt der orthodoxe Cousin, „wie lange diese komfortable Diaspora noch dauert.“

Barbara Honigmann: „Das überirdische Licht. Rückkehr nach New York“. Hanser, München 2008, 160 Seiten, 14,90 Euro