Wem schlägt die Stunde?

In der Ukraine wenden sich auch ansonsten prorussische Verbände von der imperialen Politik Moskaus in Georgien ab. So könnte sich die auftrumpfende russische Offensive im Kaukasus bald als ein Eigentor des omnipotenten Nachbarn erweisen

Mykola Riabchuk ist Herausgeber der literarischen Monatszeitung Krytyka in Kiew. Bei Suhrkamp erschien 2006 „Die reale und die imaginierte Ukraine“. Der Essay beschreibt den schwerfälligen Emanzipationsprozeß in der größten der ehemaligen Sowjetrepubliken.

VON MYKOLA RIABCHUK

Nur wenige hundert Menschen versammeln sich vor der russischen Botschaft in Kiew und machen ihrer Wut Luft. Für sie ist der Krieg im Kaukasus schieres Banditentum. Und auf der anderen Seite zur georgischen Botschaft kamen gleich nur ein paar Dutzend Menschen. Wahrscheinlich ist es dieser Tage einfach zu heiß in der Ukraine, um zu demonstrieren.

Peacekeeping auf Russisch

Gleichzeitig quellen ukrainische Internetseiten über von Politikerstatements, Expertenanalysen und Leserkommentaren. Dabei gehen die Meinungen über den russischen Feldzug weit auseinander. Einig ist man sich nur in einer Sache, nämlich dass dieser Krieg eine ernst zu nehmende Warnung an die Adresse der Ukraine sei. Demnach sei sie das nächste Zielobjekt für die besondere Weise, wie Russland sein „Peacekeeping“ betreibt.

Eine aktuelle nationale Umfrage ergab, dass 52 Prozent der Befragten Russlands brutales Vorgehen gegen Georgien verurteilen. 32 Prozent halten es für berechtigt, und die übrigen verweigern die Antwort oder können sich nicht entscheiden.

Die Zahl der ukrainischen Russlandkritiker überrascht nicht weiter. Sie entspricht in etwa der Anhängerzahl von den prowestlichen „orangenen“ Parteien. Die Zahl der Unterstützer des Kremls aber hat im Vergleich zu sonst deutlich abgenommen. Noch bis kurzem waren die beiden Gruppen in etwa gleich stark – die dünne Mehrheit, welche die „orangene“ Partei bei den Präsidentschaftswahlen 2004 und den Parlamentswahlen 2006 und 2007 für sich gewinnen konnte, erwies sich als zu wacklig und wurde von den prorussischen Kräften effektiv blockiert. Im Moment aber halten sich die prorussischen Kräfte eher bedeckt.

Nur die ohnehin marginalen Kommunisten, die auf etwa fünf Prozent der Wähler kommen, haben ihre Solidarität mit Russlands Friedenstruppen unterstrichen und den ukrainischen Präsidenten für seine Unterstützung Georgiens verurteilt. Die größte oppositionelle Gruppierung jedoch, die „prorussische“ Partei der Regionen, hat bislang auf jede offizielle Stellungnahme verzichtet. Diese Zurückhaltung dürfte die Zerrissenheit zwischen Parteispitze und Parteibasis widerspiegeln. In vielerlei Hinsicht ähnelt sie auch der schüchternen Positionierung vieler vermutlich prorussischer Autokraten bei der von Russland angeführten GUS. Bislang hat nicht ein einziger seine öffentliche Unterstützung für das russische Peacekeeping kundgetan. Selbst der weißrussische Präsident Lukaschenko verweigerte den Support – zur großen Unzufriedenheit des Kremls.

Der Grund dafür ist simpel: Russlands Regierung hat eine Grenze überschritten, weswegen sich jetzt alle postsowjetischen Länder äußerst verwundbar fühlen. In der Kritik stehen dabei nicht nur die absehbaren zukünftigen „friedenserhaltenden Maßnahmen“ in Regionen, die Moskau als seinen rechtmäßigen Hinterhof begreift – angefangen beim moldawischen Transnistrien über die ukrainische Krim bis hin zum dem an Erdöl reichen Aserbaidschan, das derzeit in einen schwelenden Krieg mit Armenien verwickelt ist. Das Problem ist auch, dass die postsowjetischen Autokraten bislang mit ihrer russenfreundlichen Haltung auf dem politischen Markt punkten konnten. Sie verkauften sie als das Ergebnis von sorgsamen Abwägungen der verschiedenen geopolitischen Optionen, getragen vom gutem Willen und der wohlüberlegten Bestrebung, die antirussische und prowestliche Opposition in ihren Ländern zu schwächen. Wie fleißige Schüler wollten sie für ihre „Russland-Wahl“ gelobt und ausgezeichnet werden.

Loyalität als Muss

Nun aber hat Moskau klargestellt: Die Loyalität mit Russland ist keine Option, sondern ein Muss. Insofern es nicht gedenkt, die Treue zu belohnen, sondern mangelnde Loyalität gnadenlos abstraft. Angesichts der Bilder von bombardierten georgischen Städten, Straßen und Industrieanlagen, von geplünderten und ethnisch gesäuberten Dörfern, blockierten Hochseehäfen und zerstörten Ölplattformen konnte nun jeder diese Lektion lernen. Und auch die beschämende Uneinigkeit und Ohnmacht des Westens gegenüber der diplomatisch-propagandistischen Chuzpe des kleinen Tyrannen vom Kreml hat diese Botschaft lanciert.

In der Ukraine sind die russophilen Kräfte in einer besonders schwierigen Situation. Denn die prowestlichen Gegner im Land sind wirklich stark. Die Massenmedien sind unabhängig und pluralistisch und die politische Szene ist von einer großen gegenseitigen Konkurrenz geprägt. Entsprechend war es bisher ratsam, die Rolle des „pragmatischen“ Quasizentristen zu spielen und sich als Vermittler zwischen den begeisterten prorussischen Kommunisten und den „wirklichkeitsfernen“ prowestlichen „Nationalisten“ zu gerieren. In der aktuellen Situation aber bedeutet die „pragmatische“ prorussische Haltung von Yanukovych und seiner Partei der Regionen mitnichten den Wunsch, sich politisch zu vereinigen oder sonstige politische oder wirtschaftliche Zugeständnisse an Moskau zu machen. Sie signalisiert nur eine Art symbolische Loyalität, eine moderate Distanzierung von prowestlichen „Extremen“, um auf diese Weise eine für die Wähler akzeptable Zwischenposition in! der ukrainischen Politiklandschaft okkupieren zu können. Selbst auf der stark russophilen Krim ist die lokale Elite keineswegs über die Perspektive erfreut, Moskau unterstellt zu werden und damit ihre Besitztümer und ihre lukrativen Geschäfte durch weitere Kriege zu gefährden. Es ist eine Sache, Kiew mit der prorussischen Karte zu erpressen, aber eine andere, mit der Unterwerfung unter Russland sämtliche Karten aus der Hand zu geben.

Das russische Vordringen nach Georgien hat die Zwischenposition für die russophilen Kräfte in der Ukraine zerstört. Genauer gesagt, in den Augen des Kremls ist sie wertlos und in den Augen vieler Ukrainer ist sie dubios. Die „multivektoriale“ internationale Politik der Vorgänger von Vikor Yushenko ist an ihr Ende gekommen.

Nun müssen sich die politische Elite ebenso wie die Gesellschaft insgesamt entscheiden. Entweder das Land konsolidiert sich und bewegt sich mit Nachdruck in die europäisch-transatlantische Sicherheitszone. Oder es beugt sich der russischen Tyrannei. Beachtlich viele gehen davon aus, dass die russischen Verbrechen im Kaukasus ebenso ungesühnt bleiben werden wie die in Tschetschenien. Ebenso sicher ist man sich. dass die Krim das nächste Angriffsziel sei.

Volodymyr Horbach, Analyst des Kiewer Instituts für transatlantisch-europäische Zusammenarbeit, nimmt an, dass eines der Ziele von Russland ist, den Nato-Beitritt Georgiens und der Ukraine zu verhindern. Und zwar indem sie ihre europäischen Verbündeten, allen voran Deutschland, bloßstellen. Wenn das stimmt, und die EU sich tatsächlich von Russland erpressen lässt, dann sollte sich die Ukraine dringend darum kümmern, die militärische und politische Zusammenarbeit mit den USA auszubauen.

Europa oder USA?

Gegenwärtig scheint das angesichts des wenig beliebten US-amerikanischen Präsidenten und seiner Außenpolitik wenig wahrscheinlich. Bislang sind die Ukrainer Europa deutlich zugewandter als den USA. Aber diese Einstellung kann sich angesichts der weitaus entschiedeneren Reaktionen der US-Amerikaner auf die Krise im Kaukasus schnell und radikal ändern. Umso mehr, wenn ab November ein neuer Präsident die Führung übernimmt.

Fest steht aber schon jetzt: Weder die Ukraine noch die postsowjetische Welt sind nach dem aktuellen Beweis des russischen Durchsetzungswillens noch dieselbe.

Volodymyr Horbach glaubt, dass der Kaukasuskrieg Auswirkungen auf das gesamte System der internationalen Beziehungen haben wird. „Für die internationale Politik“, so glaubt er „wird der 8. August genauso einschneidend sein wie der 11. September“. Noch ist das Wort „Frontlinie/Schusslinie“ nicht gefallen, aber es liegt in der Luft.

Aus dem Englischen von Ines Kappert