: Second Life bekommt Ambulanz
Manche Menschen können ohne das Surfen im Internet nicht mehr leben. Die Medizinische Hochschule Hannover plant eine Anlaufstelle für Computersüchtige – im Internet
In Onlinewelten wie „Second Life“ und „World of Warcraft“ können sich User virtuelle Identitäten erschaffen, so genannte Avatare. Mehr als 10 Millionen Menschen weltweit haben so eine oder mehrere Identitäten zum Leben erweckt. Sie kämpfen an der Seite anderer Avatare in Fantasy-Welten oder kaufen, sammeln und tauschen untereinander Kleidung, Frisur und Häuser. TAZ
VON JULIAN KÖNIG
Bert te Wildt von der Medizinischen Hochschule Hannover behandelt Menschen, die man im Volksmund als „onlinesüchtig“ bezeichnet. Sie verbringen ihre Zeit am liebsten im Internet, was wiederum einer möglichen Therapie im Wege steht: „Viele haben eine hohe Hemmschwelle, in eine therapeutische Sprechstunde zu gehen oder trauen sich gar nicht mehr aus dem Haus“, sagt te Wildt.
Um das Problem zu lösen, erschuf der Mediziner in der virtuellen Welt von „Second Life“ seinen eigenen Avatar und kaufte ein Stück Land. Auf diesem ist eine „Online-Ambulanz“ geplant, die Usern als erste Anlaufstelle dienen soll.
Momentan hängt das Projekt in der Warteschleife, rechtliche Fragen wie: Was mache ich, wenn jemand seinen Suizid ankündigt und sich dann aus dem Netz ausklinkt? müssen noch geklärt werden. Dazu kommt ein Image-Problem – die virtuelle Welt ist in Verruf geraten, seit sich dort die Sex- und Kommerzseiten vermehren.
Im kommenden Frühjahr will te Wildt das Projekt im Zuge einer neuen Therapieforschung etablieren. Die Ambulanz könne nur der erste Kontakt sein, eine reale Therapie müsse sich anschließen, sagt er. „Es wäre sonst, als ob sie mit einem Alkoholiker ein Bier trinken gehen würden.“ Sitzungen per Chat und Webcam seien nur in Ausnahmefällen denkbar. Bei einer Psychotherapie seien Raumgebundenheit und leibhaftiger Kontakt äußerst wichtig.
Doch genau davor haben viele Internet-Abhängige Angst, sie leben zurückgezogen vor dem Computer. „Wir wollen die Menschen da abholen, wo sie sich aufhalten“, sagt te Wildt. Die Patienten hätten in der realen Welt oft ihr Gefühl für Identität und Selbstwert verloren. In den Sitzungen lässt er sich von ihnen erzählen, wie ihre Identität in der virtuellen Welt aussieht, was sie dort erleben. „Bei pathologischer Internetabhängigkeit ist nicht die totale Abstinenz das Ziel, sondern eher der sinnvolle Umgang mit dem Medium“, sagt auch Constanze Hennings von der Hamburger Suchtberatungsstelle „Die Boje“. Im Internet könnten die User mit ihrer Identität experimentieren, sie erlebten dort oft ein Gefühl von Gemeinschaft.
Es sind vor allem junge Männer, die auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben Rückschläge erlitten haben und nun ängstlich sind. „In World of Warcraft können sie nun der Held sein, der sie im realen Leben nicht sind“, sagt te Wildt. Die Medizinische Hochschule Hannover hat herausgefunden, dass 77,8 Prozent der Abhängigen durch eine depressive Vorerkrankung in die Onlineabhängigkeit geraten sind. Das weist darauf hin, dass es sich um eine Impulsstörung handelt und nicht um eine stoffgebundene Abhängigkeit wie bei der Alkoholsucht.
Diese Störung kann zeitlich begrenzt sein. Bert te Wildt berichtet von Jugendlichen, die sich zwei Jahre lang in die virtuelle Welt begeben und dann merken, dass sie noch andere Bedürfnisse wie körperliche Nähe haben. Ohnehin hält er die Zahlen einiger Studien, die eine Suchtgefährdung von drei bis elf Prozent unter den Usern ausgeben, für relativ hochgegriffen. Die Online-Ambulanz solle vor allem schwerst Abhängigen eine Anlaufstelle bieten.