: Alte Hamburger Schule
Beim Internetsender byte.fm können öffentlich-rechtliche Radiomacher tun, was sie bei Öffentlich-Rechtlichen kaum noch dürfen – als Mitbestimmer und Wegweiser für das Musikleben agieren
AUS HAMBURG RENÉ MARTENS
Der Hochbunker in St. Pauli, 1942 unter anderem von europäischen Zwangsarbeitern errichtet, gehörte einst zu Hitlers Lieblingsbauten. Bis Kriegsende war auf dem Dach des Gebäudes, das, so der Kunsthistoriker Henning Angerer, in seiner „archaischen Brutalität die Zielsetzungen der Nazis deutlicher vor Augen führte als die Repräsentationsbauten Speers“, eine Flugabwehrbatterie stationiert.
Unter städtebaulichen Aspekten ist der Bunker ein Biest, aber das Schöne an dem Biest ist, dass es Raum bietet für byte.fm, eines der aufregendsten Internetradioprojekte der letzten Zeit. Seit Jahresbeginn nutzen die Musikenthusiasten um Gründer Ruben Jonas Schnell hier im vierten Stock 120 Quadratmeter. Nebenan ist der Live- und Tanzklub Uebel & Gefährlich zu Hause.
Schnell moderiert sonst für den NDR die Sendungen „Nachtclub“ und „Nachtclub Magazin“ und konnte auch einige andere Moderatoren dieser Sendungen für byte.fm gewinnen. Außerdem sind weitere Koryphäen des öffentlich-rechtlichen Radios dabei, darunter Klaus Walter vom HR („Der Ball ist rund“) und Klaus Fiehe von Eins Live. Darüber hinaus ist hier die wegweisende Show „Ocean Club“, die Thomas Fehlmann und Gudrun Gut für Radio Eins (RBB) produzieren, zu hören, und es beteiligen sich Musiker wie Frank Spilker (Die Sterne).
Es gibt unzählige Internetsender, die das Radiomachen neu zu erfinden versuchen. Den Leuten von byte.fm indes tut man kaum Unrecht, wenn man sie als Programmmacher der alten Schule bezeichnet. Bei byte.fm darf sich die öffentlich-rechtliche Kernkompetenz austoben, was bei den eigentlich öffentlich-rechtlichen Radioprogrammen ja nur noch eingeschränkt möglich ist; byte.fm will sein, was die gebührenfinanzierten Sender vor Ewigkeiten mal waren: „Mitbestimmer und Wegweiser für das Musikleben und die Musikentwicklung unserer Zeit“.
Das Zitat stammt aus dem Jahr 1953, und zwar von Edmund Nick, damals in Köln Leiter der Hauptabteilung Musik beim NWDR, dem Vorläufersender von NDR und WDR. Zumindest, was Popmusik betrifft, erfüllen die öffentlich-rechtlichen Sender heute ihren kulturellen Auftrag allenfalls noch nach 22 Uhr. Der Unterschied ist aber: Byte.fm finanziert sich nicht durch Gebühren beziehungsweise höchstens indirekt. Viele Mitarbeiter bekommen bei den Öffentlich-Rechtlichen gebührenfinanzierte Honorare, ohne die es ihnen nicht möglich wäre, für byte.fm ohne Bezahlung zu arbeiten.
Bei dem jungen Sender aus Hamburg bestimmen die Moderatoren das Programm, es gibt keine Computerrotation. Nennen wir es mal: Autorenradio. Nach eigener Darstellung präsentiert der Sender „alles, was in der modernen Popmusik wichtig ist“. Ob Dubstep, afrikanophile Sounds oder Neues aus der Songwriter-Welt – diese Musik gibt es nicht nur zu hören, es geht oft auch darum, überraschende Zusammenhänge aufzuzeigen, den Hörer mit Hintergründen und Nebensträngen eines Songs oder Tracks zu konfrontieren.
Als die New-Wave-Discokönigin Grace Jones 60 Jahre alt wurde, nahm Klaus Walter, der auch taz-Autor ist, dies zum Anlass, ihr unter dem Titel „Who is (s)he? And what is (s)he to you?“ eine Folge seiner Reihe „Was ist Musik?“ zu widmen. Die Ankündigung lautete: „In China lassen sich Frauen die Beine brechen und dann verlängern, um die in vielen Berufen vorgeschriebene Mindestgröße zu erreichen. Wir reden nicht von Profi-Basketballerinnen. Was das mit Grace Jones zu tun hat? Das ist eine der Fragen bei ‚Was ist Musik?‘“.
Byte.fm hat derzeit täglich 5.000 Hörer, die mindestens fünf Minuten das Programm verfolgen. Die Fans sitzen überwiegend in Hamburg, mit einigem Abstand folgen als weitere Hochburgen Berlin und Frankfurt. Er sei zufrieden mit der bisherigen Entwicklung, aber auch von Natur aus ungeduldig, sagt Schnell, der sich interviewen lässt, während er die Sendung „Tourkalender“ fährt. Die Zukunft von byte.fm hängt zu einem gewissen Grad auch davon ab, wie schnell sich freistehende Internetradios durchsetzen. Diese Geräte, die via W-Lan oder über ein DSL-Kabel mit einem Router verbunden werden, lassen sich wie gestern der Ghettoblaster oder vorgestern das Kofferradio überall in der Wohnung platzieren.
Weil mittelfristig die Moderatoren bezahlt werden sollen, braucht byte.fm vorerst noch Unterstützung aller Art: von Sponsoren, die auf der Website ihre Logos „implementieren“, kleinen Gönnern, die etwas aufs Spendenkonto überweisen, Praktikanten (zumindest mittelfristig, denn derzeit „stehen sie Schlange“, so Schnell) und Partner-Plattformen, die byte.fm in ihr Angebot integrieren.
Und auch neue Moderatoren – Radioerfahrung ist Voraussetzung – werden gern genommen. Auch der Musikredakteur der taz, Tobias Rapp, hat eine monatliche Sendung bei byte.fm. Und dazugestoßen ist auch Ulrich Stock von der Zeit. Bei dem man besonders gespannt sein darf, wie er sich ein gutes Radioprogramm vorstellt – vor dreieinhalb Jahren hat Stock eine Aufsehen erregende Brandrede gegen den öffentlich-rechtlichen Flachfunk insbesondere norddeutscher Machart veröffentlicht.