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Archiv-Artikel

Ohne Lebensmittel aus dem Westen läuft in Moskau nichts

Deutschland und die EU sind weit weniger von Russland abhängig als gemeinhin angenommen. Schon heute ist Gazprom bei europäischen Banken hoch verschuldet

„ Wenn Einnahmen aus dem Gasgeschäft und westliche Kredite für Gazprom ausbleiben, würde das Gasmonopol schnell zerfallen“

MOSKAU taz ■ Die Entscheidung der EU, die Fortsetzung der Verhandlungen über einen neuen Partnerschaftsvertrag mit Russland zu verschieben, dürfte Moskau zum Nachdenken bringen. Denn die Anerkennung als zivilisierter Partner droht jetzt in noch weitere Ferne zu rücken. Erstmals sprach die EU gegenüber Russland mit einer Stimme. Das beunruhigt den Kreml, der bislang aus Uneinigkeit und egoistischen Interessen der Nationalstaaten Vorteile zog.

Auch wenn Russland in Brüssel nicht bestraft wurde, dürfte die Pause bis zu neuen Verhandlungen von den Staaten Europas dazu genutzt werden, endlich über eine gemeinsame Energiestrategie nachzudenken. Sie ist der Schlüssel zu einer einheitlichen Politik gegenüber Russland und einziges Mittel, dem Machtgebaren Einhalt zu gebieten.

Energielieferant Russland hält sich für unverwundbar. Deutschland, Italien und Frankreich bestärken es in diesem Glauben und plädierten bislang für eine weitere „Verflechtung“. Zwar ist Russland Deutschlands größter Lieferant von Öl und Gas. Dies beruht aber auf einer Entscheidung, die weder von Geografie noch anderen unabdingbaren Faktoren diktiert wird. Regierung und deutsche Konzerne haben die Abhängigkeit selbst herbeigeführt. Deutschland setzt seit Jahren fast ausschließlich auf russisches Gas und verzögert den Ausbau des ersten Flüssiggasdepots in Wilhelmshaven, das die Risiken der Abhängigkeit durch diverse Anbieter verringern könnte. Moskau plant unterdessen Pipelines nach Asien, um sich von den Europäern nicht erpressen lassen zu müssen.

In einigen Jahren wird Deutschland von Russland abhängiger sein als umgekehrt. Denn auch beim Öl, das sich problemlos woanders beziehen ließe, favorisiert es Russland. Diese „asymmetrische Interdependenz“ ist das Ziel russischer Außenpolitik nicht nur gegenüber Berlin. Sie beinhaltet das genaue Gegenstück zur Berliner Strategie des „Wandels durch Annäherung“.

Die EU würde ein deutliches Signal setzen, wenn sie Projekte wie die Ostseepipeline noch einmal überdenken und stattdessen die Nabucco-Trasse von der Türkei nach Österreich verstärkt fördern würde. Russisches Gas macht in der Gesamtenergiebilanz Deutschlands etwa 10 Prozent aus, in Westeuropa liegt es neben Italien damit an der Spitze. Nur ost- und mitteleuropäische Länder sind noch stärker auf Gas aus dem Osten angewiesen. Dennoch handelt es sich um Mengen, die sich langfristig ersetzen ließen. Daran jedoch haben deutsche Konzerne kein Interesse.

Deutschland sitzt auch bisher nicht am kürzeren Hebel. Das bestätigt etwa der frühere Energieminister Wladimir Milow: „Wenn Einnahmen aus dem Gasgeschäft und westliche Kredite für Gazprom ausbleiben, würde das Gasmonopol schnell zerfallen.“ Bereits jetzt ist Gazprom ist bei westlichen Banken in dreistelliger Milliardenhöhe verschuldet. Doch auch hier spielen die Russen die Banken der europäischen Staaten geschickt gegeneinander aus.

Zwar ist Europa zu etwa 30 Prozent von russischen Gasexporten abhängig, noch abhängiger ist jedoch Gazprom. 70 Prozent der Gesamtexporte liefert der Konzern in die EU. Westliche Investoren sorgten bislang dafür, dass es dem Konzern gelang, die Förderleistung aufrechtzuerhalten. Ohne diese Geld müsste die Produktion nach und nach gedrosselt werden. Die EU könnte also, wenn sie wollte, über diesen „Investitionshebel“ erheblichen Druck ausüben.

Russland wickelt 55 Prozent seines Außenhandels mit der EU ab. Zwar stellt es sich zurzeit als ein autarkes Imperium dar. Doch auch dies trifft nicht ganz zu. Moskau und andere Großstädte werden bis zu 75 Prozent mit Lebensmitteln aus dem Westen versorgt. Landesweit beträgt die Quote importierter Waren 50 Prozent. Auch die meisten Arzneimittel müssen aus dem Westen eingeführt werden, weil Russland nur über begrenzte Kapazitäten in der Pharmaindustrie verfügt.

Moderatere Stimmen in Moskau warnen daher vor Selbstüberschätzung. Ein Embargo, sei es von russischer oder westlicher Seite, würde die Preise für Lebens- und Arzneimittel empfindlich in die Höhe treiben. Das würde unweigerlich die sozialen Spannungen noch verschärfen und die Schere zwischen Reich und Arm vergrößern.

Eine längere Krise in den Beziehungen zum Westen würde sich auch auf das Wirtschaftswachstum auswirken, das in erster Linie von ausländischem Kapital und Technologieeinfuhr angetrieben wird. Nach Schätzungen der UniCredit wurden in der letzten Woche 5,7 Milliarden Dollar abgezogen. Die BNP Paribas geht sogar von 25 Milliarden Dollar aus, die seit dem Kaukasuskrieg in nur einem Monat aus dem Land flossen. Die Entscheidung der Europäischen Union zur Wiedervorlage des Partnerschaftsabkommen bei vollständigem Rückzug der russischen Truppen aus Georgien beruhigt die Anleger nicht wirklich.

KLAUS-HELGE DONATH