Es bestand nie Kitschgefahr

Je sparsamer der Umgang mit dem Material, desto edler die Kunst: Nach dieser Devise arbeitet der isländische Künstler Magnús Pálsson auch bei seiner derzeitigen Einzelausstellung in der Galerie Crystal Ball und zeigt eine unsichtbare Skulptur

VON WOLFGANG MÜLLER

Eigentlich beginnt die Geschichte der isländischen bildenden Kunst erst Anfang des 20. Jahrhunderts. In der ersten deutschen Veröffentlichung über „Islands Kultur und seine junge Malerei“ von 1928 warnt Autor Georg Gretor sogleich vor Islands Gefahren: „Bei den merkwürdig scharfen Konturen, der Buntheit und dem Reichtum an Kontrasten der hochnordischen Atmosphäre“ dürfe diese Landschaft vom Künstler nie realistisch, sondern müsse zumindest impressionistisch wiedergegeben werden. Wer das als Maler nicht beachte, so Gretor, verfalle unweigerlich dem Kitsch.

Was den Umgang mit den Stereotypen Islands betrifft, scheint der dänisch-isländische Superstar Olafur Elíasson relativ angstfrei zu sein. Sein letztes Projekt, ein technisch höchst aufwändig konstruierter Wasserfall in New York, muss – wer einmal Islands Wasserfälle gesehen hat – zwangsläufig wie ein Plastik-Eiffelturm aus dem Andenken-Shop wirken. Überhaupt birgt die künstlerische Appropriation isländischer Naturphänomene, als da wären: Licht – Wasser – Feuer – Eis, einige Gefahren. Natürlich muss es nicht allen so gehen wie der spanischen Touristin, die sich für ein Foto mit dem Rücken vor einer kochenden Schlammquelle posierte: „Noch ein Schritt zurück, bitte! Damit auf dem Bild auch der Kopf drauf ist“, sagte die arglose Kollegin …

Bei Magnús Pálsson, dem 1929 geborenen Altmeister des isländischen Hanges zur Interdisziplinarität, bestand nie Kitschgefahr. Vermutlich ist er deshalb bis heute weder extrem populär noch unbezahlbar geworden. Aber vielleicht ist er der beste zeitgenössische Künstler Islands. Auf jeden Fall ist er einer ihrer besten. Magnús Pálsson gehört zu den Mitbegründern der SÚM-Gruppe, die 1965 Fluxus ins Land brachte. In diesem Kontext spielte Magnús’ langjähriger Freund, der Wahlisländer Dieter Roth, eine wichtige Rolle. Magnús gründete jedenfalls experimentelle Theatergruppen, inszenierte Performances, war 1977 Teilnehmer der documenta 6 und vertrat 1980 Island schließlich auf der Biennale in Venedig. Hier zeigte er eine „unmögliche“ Skulptur, nämlich die des Raumes zwischen den drei Rotoren eines Helikopters und seinem Landeplatz – kurz bevor der Hubschrauber aufsetzt, inklusive verwirbelter Rasen.

„Hauptberuflich konnte hier früher kein Mensch von Kunst leben“, sagt Magnús über seine alte Heimat, in die er nach vielen Jahren in London nun gerade wieder zurückgekehrt ist. „Die isländischen Künstler der vergangenen Jahrhunderte waren Outsider, Eigenbrödler und Amateure wie beispielsweise ein Bauer namens Jón aus Mödrudalur. Jón liebte seine Frau so sehr, dass er die Wände ihrer Küche mit allen Wasserfällen Islands bemalte,“ grinst Magnús. Wer Island kennt, weiß, dass es nicht wenige sind.

Magnús Pálsson arbeitet mit sehr unmittelbaren, persönlichen Bezügen und verknüpft diese mit den allgemeinen Bedeutungen. Wer sich davon angezogen fühlt, dem eröffnet sich plötzlich die Gleichzeitigkeit, die Spannungen und die Widersprüchlichkeiten der „privaten“ und der „öffentlichen“ Welt. So zeigt die Einladungskarte der Galerie Crystal Ball eine schöne isländische Landschaft mit einem einzelnen Haus, hinter dem in riesigen Lettern der Name „Jón“ hineingemäht ist. Land-Art? Sieht zwar so aus, ist es aber nicht: „Das ist ein anderer Jón, mein Ururgroßvater, den ich persönlich nie kennen gelernt habe. Er lebte genau dort und ich habe seinen Namen ins Gras gemäht. Er galt als ein sehr spezieller, schwieriger Charakter.“

Vom Buch, über das Hörspiel, die Skulptur, das Theaterstück, die Performance, den Druck, die Installation und vielstimmigen Chorgesang – der Gebrauch aller Medien ist für Magnús möglich und nötig, wenn auf diese Weise ein bestimmter Inhalt transportiert werden kann. „Die künstlerischen Medien sind gleichwertig. Denn Musik hat auch Visualität und ein Bild hat auch einen Klang.“

Magnús Pálssons Devise: Je sparsamer der Umgang mit dem Material, desto edler die Kunst. Seine Kunst verzichtet auf jede Effekthascherei, ist auf das Grundsätzlichste beschränkt und geht den Dingen in ihren unsichtbaren Zwischenbereichen auf den Grund. Das Resultat kann dann sehr einfach aussehen, bezaubernd einfach und sehr poetisch: wie der Negativabdruck vom Meeresboden plus seinem unsichtbaren Positiv als Gipsskulptur, oder ein Raum, aus dessen Lautsprecherboxen erzählte Träume klingen. Die entstehende Verdichtung, Überlagerung und Loslösung der nächtlichen Visionen zeigt dann die Diskontinuität und Flüchtigkeit von Träumen. In seiner ersten Einzelausstellung in Berlin untersucht Magnús Pálsson, ob und wie Träume Realität werden können: Höchst Persönliches, Intimes kommuniziert dabei mit dem Allgemeinen. Die Polaritäten durchdringen sich und werden zur unsichtbaren Skulptur. Diese füllt den Raum, völlig unspektakulär und doch höchst intensiv.

Bis 18. Oktober (mit Finissage um 20 Uhr); Crystal Ball, Schönleinstr. 7., Di., Fr., So.: 15 bis 20 Uhr; Eröffnung Sa. 13. September, 20 Uhr mit Performance von Rod Summers, Magnús Pálsson, Tom Winter und einer Rede des isländischen Botschafters Ólafur Davídsson