Berliner Platten : Zwei ungleiche homöopathische Portionen Berlingefühl verabreichen Radiopilot und Großstadtgeflüster
In der Popmusik geht’s zu wie in der Homöopathie. Der Grundsatz, dass Ähnliches mit Ähnlichem geheilt werden kann, gilt hier wie dort. Ein peinliches Liebeslied kann mit einem Schuss zusätzlichem Kitsch zum ganz formidablen Schmachtfetzen geadelt werden. Wenn einem also erst einmal die Romantik verrutscht ist, dann kann man auch gleich richtig auf die Kacke hauen – so wie Radiopilot auf ihrem Debütalbum „Leben passiert“. Dort trifft Sänger Lukas Pizon nicht immer den richtigen Tonfall, und das nicht nur, weil sein Organ eine Neigung zum Quäken offenbart. Das wirkt unpassend, wenn er sein „schönes Mädchen aus Japan“ besingt oder eine andere Angebetete bittet: „Zeig mir die Sterne heut nacht“. Dann aber, ganz speziell in „Schmetterling“, wird’s zwar auch gefühlig, nimmt der Wind den Atem und bringt die Geliebte in Gedanken nah, aber im Bauch will sich statt diesem sonst so untrüglichen Fremdschamgefühl lieber wohlige Wiedererkennensfreude einstellen.
Und aus „Schmetterling“ wird eine ziemlich gute Schmonzette. Der andere wirklich großartige Song auf „Leben passiert“ heißt „Monster“, und der hat den großen Vorteil, dass er nicht nur von der Liebe erzählt. Man könnte ihn wohl einen programmatischen Song nennen, denn mit ihm mühen sich Radiopilot, das Lebensgefühl der Generation Praktikum zusammenzufassen. Da ist die Rede von „der Macht, die ich geborgt hab“, und der „Zeit, in der ich versäumt hab, so zu leben, wie ich es gewollt hab“. Das Ganze gipfelt in der Selbstermächtigung: „Ich will leben, weil ich es kann“. Auch hier spielt das Quintett mit dem Pathos, aber bricht es erfolgreich mit jugendlicher Bekümmerung und bildet auf diese Weise wohl recht wahrhaftig den seelischen Zustand der jungen Menschen ab, die so durch Berlin-Literatur und Hauptstadt-Filme turnen.
Eine ähnliche Zielgruppe haben, das legt schon der Name nahe, auch Grossstadtgeflüster. Das Trio verkauft sich als „elektronische Tanzmusik-Kapelle“, die „rotzfrechen, urbanen Elektro-Pop“ spielt. Tatsächlich könnte man sagen, dass sie den typischen Berliner Electro-Punk, den Mediengruppe Telekommander oder Nachlader geprägt haben, auf eine Pop-Ebene befördern. Ob sie ihn da allerdings hinaufheben oder runterziehen, das mag jeder selbst entscheiden. Immerhin sehr souverän ist der Umgang mit altertümlich piepsigen Synthie-Sounds und den abgehackt-klapprigen Beats. Dazu singt Jen Bender von Sex und Saufen, von „under-fucked and overdressed“ – und das immer leicht überschnappend, als hätte sie einen Alptraum, in dem sie von Hazel O’Conner verfolgt würde. Kurz: Grossstadtgeflüster klingen zwar so, wie Ideal mal klangen oder Wir sind Helden in ihren Anfangstagen, aber ersetzen deren Mauerstadtgefühl bzw. Konsumkritik durchs großstädtische Feiern. Mehr haben sie auch nicht versprochen, aber musikalisch wirkt es eben nur mehr wie ein bisweilen müder Abklatsch der Achtzigerjahre. Womit wieder einmal eine andere Erfahrung aus der Naturheilkunde bewiesen wäre: Dasselbe bewirkt eben nicht immer das Gleiche.
THOMAS WINKLER
Radiopilot: „Leben passiert“ (SonyBMG), live am 13. 9. beim Wolkenberg-Benefiz-Festival in Michendorf, Grossstadtgeflüster: „Bis einer heult!!!“ (Chicken Soup/Groove Attack)