Sushi in São Paulo

Der brasilianischen Riesenstadt São Paulo hat die Choreografin Constanza Macras ihr jüngstes Stück gewidmet: „Paraíso sem Consolação“. Heute feiert es im Hebbel-Theater Premiere

VON ANNE PETER

Federn in Pink und Grün bauschen sich um einen Frauenkörper im goldenen Fransenbikini. Zum Percussion-Rhythmus beginnen die Hüften zu kreisen, das Gefieder zittert – Samba! Rio! Karneval! Und schon befinden wir uns pfeifend und rasselnd mitten im größten aller Brasilien-Klischees. Doch plötzlich schlenkern die Arme lustlos gegen die Seiten, das Strahlelächeln sackt von den Lippen, und ganz gemächlich stürzt die Dame der Länge nach zur Seite hin – was das Stereotyp buchstäblich in die Schieflage befördert.

Das ist einer jener unverhofft komischen Klischeebrüche, die die argentinische Choreografin Constanza Macras so gut beherrscht. Und es ist die letzte Nummer in ihrer jüngsten Arbeit „Paraíso sem Consolação“ – „Trostloses Paradies“. Sie entstand im Frühsommer in São Paulo für das dortige deutsche Kulturfest und kommt jetzt, im Rahmen eines umfangreichen „Tropen“-Programms mit Ausstellung im Martin-Gropius-Bau und Veranstaltungsreihe, ins Hebbel am Ufer. Es ist eines der wenigen Stücke, die Macras nicht mit ihrer multikompetenten Dorkypark-Truppe, mit der sie seit 2003 die Berliner Tanzszene aufmischt, sondern mit zwölf brasilianischen Tänzern und zwei Musikern vor Ort entwickelt hat. Wie bei den „Dorks“ versammeln sich dabei die verschiedensten Backgrounds: Ballett, Modern, Hiphop, Musical.

Nach Brasilien kam sie mit der Idee, ein Stück über Shopping Malls in wirtschaftlich aufstrebenden Schwellenländern zu machen. Dort angekommen, fand sie die Stadt viel faszinierender, und so ist es jetzt „ein richtiges São-Paulo-Stück“ geworden. „Aber es geht auch allgemein um das Phänomen ‚Megalopolis‘, darum, wie das Großstadtleben die Wahrnehmung fragmentiert und wie sich hier die verschiedenen Realitäten der Menschen überschneiden, die auf sehr reduziertem Raum zusammen leben und funktionieren müssen.“

Wie so oft gehen die beobachteten Alltags-Merkwürdigkeiten der Stadt in das hyperkreative All-Verwertungssytem der Macras ein: Jedes Erlebnis, jede aufgeschnappte Anekdote, jeder angelesene Wissensbrocken können zum szenischen Material werden. So vertanzt und betextet sie in „Paraíso“ die imaginären Schnappschüsse, die sie in sieben Wochen São Paulo gesammelt hat. Dazu laufen Videobilder der Stadt.

Sie beschreibt das „Monster“ São Paulo in schnell sprudelndem Englisch, erzählt von Hubschraubern, mit denen die Reichen herumfliegen, von aufblasbaren Planschbecken auf Hausdächern und von Pflanzen, die durch Häuserwände brechen. Vom krass sexistischen Hinternwackel-Tanzstil Baile Funk und von einer Stadt, wo man der „visual pollution“ durch das Verbot von Werbeplakaten begegnete, sodass Promotion jetzt über Aktionen wie Flash-Mobs oder Tanzperformances läuft.

Zum Interview erscheint Constanza Macras sympathischerweise, als wäre sie mal eben spontan vom Sofa in ihrer Prenzlauer-Berg-Wohnung aufgesprungen: ungeschminkt, mit weiter Kapuzenjacke überm Sommerkleid, unter dem der Babybauch schon enorm rund ist. Trotz Schwangerschaft habe ihr übrigens ihr Frauenarzt in São Paulo, einer der vielen eingewanderten und „perfekt integrierten“ Japaner, erlaubt, Sushi zu essen. Sie lacht.

Die „japanischen Brasilianer“ mussten im Stück natürlich vorkommen. So erläutert ein Tänzer die Philosophie der Samurai. „Was natürlich auch witzig ist, denn die Samurai haben eine sehr esoterische Art, mit diesem Chaos und dem Stress in einer Großstadt umzugehen.“ Das Bemerkenswerteste an São Paulo sei für sie jedoch die Effizienz und Pünktlichkeit gewesen, die Präzision, mit der alles stattfinde, bis hin zu abrupt beendeten Dinnerpartys. Nicht unbedingt so relaxt, wie man sich das vorstellt.

Eine Symbol-Requisite für die großstädtische Stressbewältigungsmanie ist auch der Massage-Stab, der im Stück nicht nur in einer Szene leidenschaftlich beworben, sondern immer dann beruhigend zum Einsatz kommt, wenn eine der Tänzerinnen durchzudrehen droht. „Dieses Objekt steht außerdem für das Übermaß an sehr dummen, nutzlosen Dingen, die wir anhäufen. So was wird in São Paulo an jeder Ecke verkauft.“ Zum Beispiel auf einem Markt, der immer wieder hastig abgebrochen wird, wenn die Polizei kommt.

Auch die weniger unterhaltsamen Seiten der Metropole spielen in „Paraíso“ eine Rolle, natürlich durch die Macras-Humor-Mangel gedreht: krasse soziale Unterschiede, latenter Rassismus und Homophobie. Eine Tänzer spricht vom „Kidnapping Express“ und hat es selbst erlebt: Man wird für seine Kreditkarte gekidnappt und dann so lange festgehalten, bis das Bankkonto leer ist. „Alle sind mindestens einmal überfallen worden. Einer Tänzerin wurde sogar der Arbeitslosenausweis geklaut.“ Dennoch sollte es kein Stück über Kriminalität werden. „Ich wollte diese Schizophrenie zeigen, die die Menschen in einer solchen Stadt auszeichnet: Sie wissen um die wahnsinnig hohe Kriminalitätsrate und machen Witze darüber. Sie sind daran gewöhnt, in einer unerträglichen Situation zu leben, umgeben von Angst, schrecklichem Lärm, ewiglangen Staus, hoher Umweltverschmutzung.“

Macras benennt ihr Stück wortspielerisch nach den beiden U-Bahn-Stationen „Paraíso“ und „Consolação“: Das „Paradies“ ist ein heruntergekommenes Viertel, in „Consolação“ (Trost) ist es schick und bildungsbürgerlich. Einmal mehr sind es auch in São Paulo die krassen Kontraste, die sie angezogen haben und die kaum einer so lustvoll aufeinander rasseln lässt wie die Stilmix-Ikone Constanza Macras – diese spielerische Dissonanz übertönt noch jede Samba.

13. bis 15. September 2008, 19.30 Uhr, HAU 1