: Ein lieblicher Ort, der als Pforte zur Vorhölle gilt
Weil der Hermannplatz das Tor zu Neukölln ist, wird er oft zu Unrecht geschmäht. Dabei gehört er zweifellos zu den schönsten Plätzen Berlins
Der Hermannplatz gehört zweifelsohne zu den schönsten Plätzen der Stadt. Auch wenn der liebliche Ort oft als Pforte zur Vorhölle, weil Tor zu Neukölln, geschmäht wird – hier verströmt sich wahrer Urbanismus eines unterschätzten Stadtteils.
Sonnenallee, Hermannstraße, Kottbusser Damm, Karl-Marx-Straße, Urbanstraße, Hasenheide – sechs Prachtstraßen gehen majestätisch von ihm aus. Der Platz an sich ganz sachlich: ein lang gezogenes Nichts von Rechteck, schlichte Parkbänke, funktionale Einstiege zur unterirdischen U-Bahn-Station, schmucklose Straßenlaternen. Die 1985 anlässlich der Buga installierte Bronzeskulptur „Das tanzende Paar“ von Joachim Schmettau, auch als „Rixdorfer Tanzpärchen“ bekannt, dreht sich auf dem leeren Platz zweimal stündlich um die eigene Achse.
Das Wahrzeichen Neuköllns, den Flaneur in Jogginghose, trifft man hier eher selten, auch den berühmten Schultheiss-Berliner sieht man nur noch vereinzelt aus dem „Blauen Affen“ oder dem „Bierpunkt“ torkeln und vor der „Strickmode zum Verlieben“ inne halten. Ansonsten ist der Hermannplatz ganz und gar der Financial District der Stadt. Sieben Banken umkränzen ihn, ja, sieben: die Deutsche Bank 24, Commerzbank, Berliner Bank, Sparkasse, Oray Anker Bank, AllBank und Volksbank.
Klar, dass ein so besonderer Platz Eingang in Kunst und Literatur findet: Der Hermannplatz wird gerne von jungen und älteren Popliteraten beschrieben, er wurde – wenn auch nur in einer Nebenstrophe – von keinem Geringeren als dem kreativen Rockpoeten Heinz-Rudolf Kunze besungen, und sogar getanzt wurde der Platz: „Come together but don’t serve yourself“ nennt Aloisi Avaz sein Tanzprojekt zum Hermannplatz. Der Hermannplatz ist öffentlicher Raum, neuzeitliche Agora, wo freie Bürger zum Meinungsaustausch zusammenkommen. Die Häuser rundum stehen für repräsentatives Wohnen im 20. Jahrhundert: Berliner Klassizismus, Romantischer Historismus, Jugendstil. Das Herz des Hermannplatzes ist aber Karstadt, Kathedrale des Konsums, Glitzertempel der Verführung. Bei Karstadt kommen viele Cityfunktionen zusammen: Post, Fitness, Feinkost, Reisebüro, Hörgerätakkustiker, Eventraum im vierten Stock. Auf der Dachterrasse verprassen Senioren Tag für Tag ihre Rente. Skurillerweise liegt Karstadt genau auf der Grenze Kreuzberg-Neukölln, für die Anwohner gehört das Kaufhaus geografisch zu Kreuzberg, politisch zu Neukölln. Nachdem Hertie am Halleschen Tor und der beliebte Fox Markt an der Kottbusser Brücke schlossen, blieb dem SO36-Kreuzberger Karstadt als letztes großes Kaufhaus. Für kleine Dinge des Bedarfs wie Dübel, Socken und Druckerpatronen reist man vom Schlesischen Tor bis zum Hermannplatz. Aber warum eigentlich Hermannplatz?
Bis 1885 hieß der Hermannplatz noch „Rollkrug“ nach der berüchtigten Spelunke am Ort, die wiederum ihren Namen von den nahe gelegenen Rollbergen hatte. Ob der Platz dann aber nach Hermann, dem cheruskischen Stammesführer, oder dem gleichnamigen Gemeindevorsteher von Rixdorf benannt wurde, ist heute unklar. Beide Namenspatrone hätten ihre Berechtigung, könnte der eine für das kriegerische Flair des Platzes, der andere für seine heimelige Provinzialität stehen. Urban ist er zwar, die böse Fratze der Gentrification aber hat sich direkt am Hermannplatz noch nicht gezeigt, Coffeebars und Kunsträume sucht man vergebens, „Dunkin Donuts“ wirkt nach Schulschluss eher wie eine Modell-Cafeteria für schwer erziehbare Jugendliche. „Gefährlicher Ort“ soll der Hermannplatz laut Polizeieinschätzung sein, gefährlich ist es hier vor allem für Migranten, berüchtigt sind die Übergriffe der Polizei am Hermannplatz. Wenn sich die Ordnungsmächte zurückhalten, geht es hier recht friedlich zu. Zweimal wöchentlich werden Marktbuden aufgebaut, aber kein pittoreskes Ökogetue beleidigt das Auge, solider Heavy-Metal-Bedarf, Räucherstäbchen, Rostbratwurst, Blumen und Duftöle werden angeboten. Indianischer Federschmuck, groß gemusterte Blusen für die modebewussten Neuköllnerinnen und asiatische Geschenkartikel erweitern das Sortiment. Die wütenden Monologe hastig rauchender Männer, robuste Mütter, die mit ihren Säuglingen im Kinderwagen wie mit Motorradkumpels reden, sorgen für Unterhaltung.
Alles ist Bewegung auf den Straßen am Hermannplatz, dem angeblich lautesten Platz Berlins. Auf den Gehwegen hasten die Fußgänger vorbei, überqueren den Platz in dichten Menschentrauben von Karstadt zum Kottbusser Damm, von der Bushaltestelle Endstation Sonnenallee zu Karstadt. Nachts ist es still am Hermannplatz, vielleicht rast an einer Ampel hin und wieder ein BMW mit quietschenden Reifen los, ab und zu tuten auch einsam die Blaulichter durch die Nacht. Und im Schaufenster bei Karstadt brennt noch Licht.
CHRISTIANE RÖSINGER