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Archiv-Artikel

Supermann trifft Superfrau

Der Jahreswechsel bietet immer Gelegenheit für gute Vorsätze. Manch einer will endlich mit dem Rauchen aufhören oder die Frau fürs Leben finden – so wie Georgij. Er hat beides an einem einzigen Tag geschafft. Eine echte Heldengeschichte

Lena war groß und blond. Zu Georgij sagte sie, er habe einen knackigen Po

von WLADIMIR KAMINER

Das neue Jahr ist die richtige Zeit, um sich selbst und anderen etwas zu wünschen. Meinem Freund und Nachbar Georgij wünschte ich Gesundheit … und noch mehr Feingefühl seinen Nachbarn gegenüber, d. h., mich nicht mehr um 2 Uhr nachts anzurufen und in den Hörer zu schreien: „Schaut sofort aus dem Fenster! Es schneit!“. Das will doch um die Zeit keiner wissen!

Georgij wünschte mir für das neue Jahr mehr Geselligkeit und noch mehr Hilfsbereitschaft in Bezug auf die Nachbarschaft. Vieles auf der Welt wäre nicht schief gegangen, wenn die Menschen bereit wären, einander zu helfen, sinnierte er. Vieles läuft auf der Welt schief, weil die Menschen gerne einander helfen, ohne vorher zu fragen, konterte ich. Georgij vertrat aber eine andere Meinung, er fühlt sich für alles, was auf der Welt geschieht, verantwortlich und hat sogar die alte Fernsehserie „Superman“ auf Kassette.

Kurz vor Weihnachten waren wir zusammen in einen Porzellanladen in den Schönhauser-Allee-Arkaden gegangen, um dort eine Wodka-Karaffe für seinen Vater zu kaufen. Der Laden war rappelvoll und das Porzellan fast ausverkauft, es gab nur noch mikroskopisch kleine Essigkaraffen für 12 Euro. Trotzdem reihte ich mich in die Schlange vor der Kasse ein. Mein Freund beobachtete die ganze Zeit eine große rot-blau-gestreifte Tasche, die herrenlos im Gang stand. Nach drei Minuten kam er zu dem Schluss, dass sich darin eine Bombe befand.

Unauffällig, um keine Panik zu verursachen, schnappte Georgij sich die Tasche, schrie „Alle raus hier!“ und lief an die frische Luft. Die Menschen in der Schlange erstarrten und blieben auf ihren Plätzen. Nur zwei ältere türkische Frauen liefen Georgij hinterher. Sie beschimpften ihn auf Türkisch und wollten anscheinend ihre Bombe zurückhaben.

Mein Freund war aber schneller und schaffte es, die Tasche von der S-Bahn-Brücke runterzuschmeißen. Die Tasche platzte unten auseinander, und hunderte kleine Porzellanteile flogen in alle Himmelsrichtungen. Es war also eine Porzellanbombe. Die türkischen Frauen schubsten Georgij und drohten ihm mit der Polizei. Sie wollten wahrscheinlich nicht ohne Bombe in ihre Terroristenzelle zurückkehren.

Außer den Worten „Weihnachtsgeschenk“ und „Scheiße“ konnten wir nichts verstehen. Aber alle Leute schauten misstrauisch in unsere Richtung, sie ahnten nicht, dass wir ihnen gerade das Leben gerettet hatten. Georgij meinte, die echten Helden müssen immer im Schatten bleiben, so wie Superman eben, also hauten wir ab, bevor die Polizei auftauchte. Zu Hause wünschte ich ihm noch für das neue Jahr mehr Zurückhaltung und Toleranz.

Er selbst wünschte sich – wie jedes Jahr zu Silvester – vor allem zwei Dinge: eine besondere Frau kennen zu lernen und mit dem Rauchen aufzuhören. Dabei ahnte er nicht, wie schnell seine Träume Realität wurden. Auf einer russischen Party lernte unser Superman Lena – eine Superfrau – kennen. Lena war groß, blond und trug nicht wie die meisten auf der Party einen grünen Fuchspelz, sondern rote Lederjacke und Stiefel. Sie arbeitete bei einer Sicherheitsfirma und fuhr Motorrad – das ganze Jahr über. Zu Georgij sagte sie, er habe einen knackigen Po. Pfui, dachte Georgij – er hatte keine Erfahrung im Umgang mit emanzipierten Frauen.

Lena meinte, die Party wäre doch stinklangweilig und was er davon halten würde, mit ihr eine Runde Motorrad zu fahren. Georgij willigte ein. Die beiden tranken noch schnell einen Wodka und kletterten dann auf Lenas Yamaha. Mein Freund hatte in seinem Leben schon auf einigen Dingen gesessen, aber noch nie auf einem Motorrad. Es kam ihm zuerst neu und erfrischend vor. Lena zog ihm einen roten Motorradhelm über den Kopf und gab Gas. Sie legte großen Wert darauf, niemals geradeaus zu fahren, sondern ständig zu manövrieren, und dort, wo andere bremsen, Gas zu geben. In fünf Minuten schafften sie es vom Potsdamer bis zum Alexanderplatz.

Georgij drückte sich immer fester an die Frau, und trotzdem beschlich ihn das unangenehme Gefühl, nicht mehr Herr seines eigenen Lebens zu sein. Nach zehn Minuten Fahrt kämpfte er schon mit Brechanfällen und hatte nur noch den einen Wunsch – auszusteigen. Sie überquerten die Torstraße und fuhren die Schönhauser weiter hoch, nicht weit von Georgijs Haus entfernt. Da fing er an, Lena mit der Hand auf die Schulter zu klopfen. Sie hielt an. Er kletterte vom Motorrad und lief unsicheren Schrittes so schnell wie möglich nach Hause, ohne Auf Wiedersehen zu sagen.

Ein richtiger Supermann hätte sich an seiner Stelle mindestens fürs Mitnehmen bedankt und die Hand geküsst, aber Georgij war nicht danach, er musste kotzen. Außerdem war ihm klar, das er die Prüfung nicht bestanden hatte.

Zu Hause rannte er sofort zum Klo und versuchte sich zu übergeben. Da merkte er, das er noch immer den Motorradhelm aufhatte. Er versuchte, ihn abzunehmen – es ging nicht. Es war ein moderner Motorradhelm, der durch Knopfdruck die Form des Kopfes annimmt und sich per Knopfdruck vom Kopf löst. Nur, wo war der Knopf? Georgij drückte auf alle möglichen Stellen. Vergeblich. Der Helm saß wie angegossen an seinem Kopf. Georgij verfluchte alle Motorräder der Welt und lief wieder runter – Lena war längst weggefahren.

Georgij ging zu uns in das Haus gegenüber, wir waren aber nicht da. Georgij ging in seine Wohnung zurück, um Hilfe per Telefon anzufordern. Schnell stellte er fest, das weder Kotzen noch Telefonieren mit einem Motorradhelm möglich ist, und so musste er sich in einer für ihn ganz neuen Lebenssituation zurechtfinden. Er drehte sich erst einmal eine Zigarette und zündete sie an, doch die ausgeblasene Rauchwolke blieb im Helm und bescherte ihm aufs Neue Brechanfälle.

Er versuchte zu schlafen. Das tat richtig weh. Voller Verzweiflung holte er aus dem Werkzeugkasten unter der Spüle einen Hammer und haute sich ein paarmal kräftig auf den Kopf, in der Hoffnung die richtige Stelle zu treffen. Der Helm blieb jedoch fest sitzen, dafür hatte er die Pincodes seines Mobiltelefons vergessen, das er seit vier Jahren besaß, und erinnerte sich plötzlich an seine alte ukrainische Telefonnummer, die er seit zwölf Jahren nicht mehr benutzt hatte.

Tief in der Nacht kam Georgij auf die rettende Idee, eine Tankstelle in der Nähe aufzusuchen. Er lief aus dem Haus und die Schönhauser Allee runter. Der Tankwart wunderte sich sehr und konnte lange nicht verstehen, was dieser komische Motorradfreak ohne Motorrad von ihm wollte. Alles deutete darauf hin, das er jemanden suchte, der ihm eine auf den Kopf haute. Um sich zu vergewissern, ob er den Mann richtig verstanden hatte, nahm der Tankwart Georgijs Helm ab.

Nach diesem leidvollen Vorfall brauchte unser Freund zwei Tage, bis er wieder gesellschaftsfähig war. Danach besuchte er uns und erzählte, dass er seitdem nicht mehr raucht. Und wenn sein Organismus nach Tabak verlangt, setzt er sofort den Helm wieder auf – das hilft. Im Nachhinein kann man sogar sagen, der Helm hat ihm mehr geholfen als geschadet. Am 31. Dezember standen wir beide bei uns auf dem Balkon und schauten in die Ferne. Ich rauchte, Georgij stand einfach nur da, mit dem roten Helm in der Hand, der zu seinem Talisman geworden war. Langsam begann die wilde Knallerei in der Stadt. Die Motorradfrau meldete sich nie mehr.