: Nach Stalingrad, vor Bagdad
Sind die Deutschen tatsächlich die intellektuellen Waisenkinder der Geschichte? Ein offener Brief an Dr. Jeffrey Gedmin, den Direktor des Aspen-Instituts in Berlin
Lieber Jeff,
am 22. Dezember hörte ich mit an, wie Sie in Sabine Christiansens Sendung zum Jahresende über die amerikanisch-deutschen Beziehungen sprachen. Es spricht für Sie, dass Sie das Thema „Antiamerikanismus“ Herrn Döpfner überließen, der als Leiter des Springer-Verlags kraft Amtes die Vereinfachung beherrscht.
Sie übernahmen die schwierige Rolle des Praeceptor Germaniae, eines Lehrers der Deutschen, die Ihren Ausführungen zufolge den Ernst unserer gemeinsamen historischen Situation nicht begriffen und auf unverantwortliche Weise die Gefahren des Terrors und anderer Bedrohungen der Zivilisation missachteten, denen deren großer Wächter, die Bush-Regierung, so entschieden entgegentritt. Sie verzichteten bescheiden auf die Feststellung, dass die Berliner Tätigkeit des Aspen-Instituts, dessen neuer Direktor Sie sind, in unmittelbarer Fortsetzung eines Projekts stattfindet, das wir vor einem halben Jahrhundert in Angriff nahmen – nämlich die deutsche Re-education. Gesagt haben Sie das nicht – aber Sie werden kaum bestreiten können, dass Sie es so gemeint haben.
Ich glaube, dass Sie für die Leitung dieses Instituts hervorragend geeignet sind. Ihre Bildung, Ihre Intelligenz und Ihr Scharfsinn hebt Sie unter vielen unserer außenpolitischen Experten hervor. Aspen hat eine Vergangenheit gutzumachen. Der Institutsgründer Shephard Stone arbeitete lange Zeit mit der CIA zusammen. In seinen Berliner Jahren zeigte er sich ungeheuer arrogant und überhäufte Senat und Bundesregierung mit unerbetenen Ratschlägen. Eine prominente Persönlichkeit äußerte einmal, wenn er Stone noch ein einziges Mal von der „Schutzmacht“ schwatzen höre, werde er sich für einen neutralen Status Westberlins aussprechen. Ich war überzeugt, dass Sie weitaus geschickter vorgehen würden.
Daher war ich einigermaßen enttäuscht, als Sie vor einem Jahr kurz nach Ihrer Ankunft in Deutschland einen Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung schrieben, in dem Sie Günter Grass als „antiamerikanisch“ kritisierten. Ganz abgesehen von der Verschwommenheit dieses Ausdrucks – was würden wir von einem Direktor des Goethe-Instituts in New York halten, der seine Tätigkeit mit einem Leserbrief an die NY Times beginnen würde, in dem er den Schriftsteller William Styron als „antideutsch“ denunzierte?
Seitdem, scheint mir, haben Sie sich um Wiedergutmachung bemüht. Sie luden den Verbraucheranwalt Ralph Nader zu Gast, der unsere Gesellschaft weit schärfer kritisiert als viele Europäer. Ich nahm dies als Hinweis darauf, dass Sie sich der empörenden Provinzialität unserer Botschaft verweigern wollten und nicht die Absicht hegten, sich an der „Informations“-Kampagne des Pentagon zu beteiligen. Diese ist nur allzu offensichtlich vom Geist jenes US-Offiziers erfüllt, der einmal feststellte, wir hätten ein vietnamesisches Dorf zerstören müssen, um es zu retten. Das Pentagon vertritt Lügen im Dienste der Wahrheit. Um fair zu sein – da hat selbst Verteidigungsminister Rumsfeld seine Zweifel.
Man sollte jedoch mehr von Ihnen erwarten können als taktisches Geschick. Im Fernsehen überraschte Ihre Kennzeichnung der Deutschen als intellektuelle Waisenkinder der Geschichte. Das kann nicht Ihr Ernst sein. Eine Nation, die sich in den vergangenen zweihundert Jahren mit allen Dämonen der modernen Geschichte auseinander setzen musste, lässt sich nicht ernsthaft als naiv bezeichnen.
Man erinnere sich an die deutschen Debatten über die Nürnberger Prozesse, über die Wiederbewaffnung, über die Ostpolitik, die Friedensbewegung, den Historikerstreit und den Militäreinsatz auf dem Balkan und in Afghanistan. Man kann sich nur wünschen, dass unsere eigene Öffentlichkeit sich unserer eigenen Geschichte und ihrer moralischen Schwierigkeiten ebenso bewusst wäre. Es ist völlig absurd, in einer Hauptstadt, die noch vor einem halben Jahrhundert den uneingeschränkten angloamerikanischen Bombenkrieg und eine sowjetische Belagerung erlitt, die Behauptung aufzustellen, die Deutschen seien gegenüber den Schrecken gewaltsamer Konflikte gleichgültig.
Während des Zweiten Weltkriegs fragten Plakate in Bussen und Bahnhöfen: „Ist deine Reise notwendig?“ Es liegt kein Sinn darin, viertausend Meilen von Washington nach Berlin zu reisen, nur um die banalsten Klischees abzusondern. Natürlich sollten wir über unsere Reaktion auf den islamischen Fundamentalismus diskutieren, über den Nahen Osten und über vieles andere. In ihrer Skepsis gegenüber der Weisheit der US-Politik stehen die Deutschen wohl kaum allein. Der Guardian meinte zu Schröders Weigerung, sich den USA anzuschließen, ganz Europa stehe in seiner Schuld.
Vielleicht könnten Sie eine Aspen-Konferenz veranstalten, um die Dinge zu klären. „Terror“ ist ein komplexes Phänomen und lässt sich unmöglich eindeutig vom Einsatz von Gewalt in einem Krieg scheiden. Vielleicht sollten die Angriffe auf New York und Washington mit dem Luftkrieg gegen Deutschland, Japan und Vietnam verglichen werden.
Derweil hat unsere Regierung ganz Recht, wenn sie vor den Gefahren von Atomwaffen in den falschen Händen warnt. Wir bleiben die einzige Nation, die Atomwaffen eingesetzt hat, und es ist offizielle Politik, dass wir das wieder tun würden. Eine Aspen-Konferenz über „Terror und Krieg: Wo liegt der Unterschied“ könnte dazu beitragen, die moralische Verwirrung aufzulösen, von der so viele befallen sind – auf beiden Seiten des Atlantiks.
Ein letzter Punkt. Nach der ARD-Sendung, an der Sie teilnahmen, wurde der letzte Teil einer Serie über Stalingrad angekündigt. Ich sah diese Sendung am nächsten Abend und empfand sie als bestürzend – ganz besonders, nachdem ich am gleichen Tag Rumsfeld prahlen gehört hatte, die USA könnten zur gleichen Zeit gegen den Irak und Nordkorea kämpfen. Die USA sind ihrem eigenen Stalingrad in Saigon mit knapper Not entkommen, als die vietnamesische Befreiungsarmee die Evakuierung unserer Truppen zuließ. Wenn Rumsfeld und seinesgleichen kein Einhalt geboten wird, wird auch unser Stalingrad kommen – wenn nicht in Bagdad, dann anderswo, und das recht bald.
Sie sprachen in der Sendung von „unseren Söhnen“ in unseren Streitkräften. Amerikas Elite und ihre Familien sind im Militär auffallend schwach vertreten. Die Mannschaftsränge bestehen überwiegend aus Schwarzen, Latinos, armen Weißen; die Offiziere kommen aus Familien, die weder über die Mittel noch die Beziehungen verfügen, um ihre Kinder nach Harvard und Stanford zu schicken. Dass die Offiziere Diener der Öffentlichkeit sind, gereicht ihnen sehr zur Ehre – umso mehr Grund für uns andere, über Krieg und Frieden noch einmal genauer nachzudenken. Sie werden doch wohl nicht zu den Schreibtischhelden gehören wollen, die derzeit die Nation in die Katastrophe schreiben.
Mit freundlichen Grüßen
Norman Birnbaum