Haare am Hinterleib
Mal pathetisch, mal hochkomisch: „Von denen die überleben“, ein Crossover-Projekt von bildenden Künstlern und Autoren unter der Regie von Niklaus Helbling, illustriert den Anbruch der Endzeit im Zürcher Schiffbau. Jede Menge Tiere sind zugegen
Zum Schluss wird gesungen: „Die Schweiz wird immer weiter fliegen / Durch die Unendlichkeit des Alls“
VON IRENE GRÜTER
Der Tod kommt als freundliches, braunes Tier. Es setzt sich eines Tages auf deine Schwelle, nimmt auf deinem Sofa Platz, isst von deinem Abendessen und legt sich dann in dein Bett. So geht das ein paar Jahre, man gewöhnt sich aneinander, und irgendwann setzt sich das Tier aufs Fensterbrett und stürzt sich in den Himmel hinaus. Du springst hinterher, überrascht zunächst und später froh, das dröge Leben hinter dir zu haben. – So oder so ähnlich erzählt Miriam Maertens diese lakonische Geschichte aus dem Totenreich, staunend, als ob sie erst durch den tierischen Blick Sinn und Unsinn des Leben begriffen hätte.
Es ist nicht das erste Mal, dass in Sibylle Bergs Theatertexten Tierfiguren auftauchen, die das menschliche Alltagselend beobachten – mit einer melancholischen Komik, die man sonst in ihrem nachtschwarz-zynischen Ton nur selten findet. Im kanadischen Künstler Jon Pylypchuk hat sie einen idealen Partner gefunden. Er gestaltete einen Trupp von schlappohrigen, gehörnten, ameisenbär-schnäuzigen Tiertotems; alle aus einfachsten Materialien zusammengeschnürt, schraddelig und ausdrucksstark wie Stofftiere, grausam abgeliebt von Kindern. Diese Wesen tummeln sich auf einem großen Objekt, das einem mit Edelholz verkleideten Kothaufen verdächtig ähnlich sieht, und werfen Zwischenfragen ein: „Was war der glücklichste Moment in Ihrem Leben? Und wie war das mit dem Vögeln?“
Wenn Sibylle Berg im Untertitel „einen schönen Abend“ verspricht, kann man sicher sein, dass er einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen wird. Und doch hat sie selten so freundlich von den menschlichen Unzulänglichkeiten erzählt wie in diesem hochkomischen Puppenspiel – oder ist es eher Menschentheater für Tierwesen? Die Szene war nur einer von mehreren Bestandteilen des Crossover-Projekts, das am Samstag im Zürcher Schiffbau Premiere hatte. Drei Duos, je ein Autor und ein bildender Künstler, beschäftigten sich mit der Frage, wie es um das menschliche Überleben steht. Dass wenig Grund zur Hoffnung besteht, wird gleich am Anfang klar, als die schweizweit bekannte Sängerin Sina über die Bühne marschiert und energisch den Anbruch der Endzeit besingt. Das Publikum wandert hinterher, denn Niklaus Helbling inszenierte den Abend als Stationendrama in einer begehbaren Rauminstallation.
Vom Tod und der Sinnfrage handelt auch die Reportage des Journalisten Erwin Koch. Er recherchierte den Fall einer Mutter, die unvermittelt auf ihre Tochter einsticht und dann versucht, sich selbst zu töten. Drei Schauspieler sprechen ihre Gerichtsaussagen vor einer Kulisse, die man auf den ersten Blick für eine Schweizer Skihütte halten könnte. Doch im Innern liegen exotisch bunte Decken, und in kurzen Einschüben erfährt man, dass die holländische Künstlerin Mathilde ter Heijne hier ein Mosuo-Haus rekonstruiert hat, die traditionelle Wohnstätte einer bedrohten, matrilinearen Gesellschaft im Südwesten Chinas. Steht hier die Utopie von Freiheit in einer Frauengesellschaft den beklemmenden Szenen einer Schweizer Ehe gegenüber, in der die Mutter zur Mörderin wird?
Die Verknüpfungen bleiben assoziativ. Um gewaltsames Sterben, Endzeit und das Überhandnehmen des Tierischen im Menschen geht es auch im dritten Text, nach der „Schwarzen Spinne“ von Jeremias Gotthelf. Die Isländerin Gabríela Fridriksdóttir vermengt die urschweizerische Novelle mit germanischem Sagenstoff. Bucklige Bauern schleichen um birnenförmige Heuballen, bedroht durch eine ungeheuerliche Spinne (nach Gotthelfs Vorgeschichte eine verwandelte Mutter, die dem Teufel ihr Kind versprach). Zu wuchtigen Orgelklängen reckt sich Siggi Schwientek aus einem Baumstumpf empor und rezitiert ein Poem über den nahenden Untergang. Dazu schüttelt die Tänzerin Erna Ómarsdóttir schauderhaft den behaarten Hinterleib ihres Spinnengewands. Eine apokalyptische Vision mit viel Trockeneis und Bühnenzauber, die irgendwie an ein Kinder-Grusical erinnert und mit ihrem Pathos seltsam aus dem Rahmen fällt.
Zum Schluss taucht noch einmal Sina auf, im hautengen Skelett-Kostüm, und singt mit rauschöner Stimme: „Die Schweiz wird immer weiter fliegen / Durch die Unendlichkeit des Alls / Sie werden ihre Kinder kriegen / Falls sie noch welche wollen, falls.“ Und falls nicht, dann sollen sie zumindest feiern: Am Ausgang bekommt man das Eintrittsticket für das Schiffbaufest verabreicht – die Spielzeit am Zürcher Schauspielhaus ist eröffnet.