Schmelze im Vakuum

Das Arktiseis verschwindet so schnell, dass das Polarrecht nicht mitkommt: Es fehlen Regeln für die Schifffahrt

STOCKHOLM taz ■ Die Bremer Beluga-Reederei hätte ihr erstes Schiff gern schon im Sommer durch die Nordostpassage geschickt. Und auch norwegische Reedereien warten ungeduldig. Denn die Eisschmelze in der Arktis hat neue Möglichkeiten für die Schifffahrt eröffnet. An der Küste Sibiriens entlang ist der Seeweg von Nordeuropa nach Japan 40 Prozent kürzer und 15 Tage schneller als durch den Sueskanal – und frei von Piraten, wie die norwegische Reedervereinigung betont.

Prompt schwärmte auch der EU-Kommissar für Fischerei und maritime Angelegenheiten, Joe Borg, bei einer Arktis-Konferenz in Grönland von den positiven Seiten der globalen Erwärmung.

Für die Naturschützerin Maren Esmark vom WWF Norwegen ist das unverantwortlich: Kein kommerzielles Schiff dürfe dort auf die Reise gehen, solange es kein internationales Vertragswerk für den Schiffsverkehr in arktischen Gewässern gebe. Die Verantwortung für die Umwelt könne nicht den Anrainerstaaten und kurzfristigen Gewinninteressen überlassen werden: „Man lässt ja auch keine Öltanker dicht an den Galapagos-Inseln vorbeifahren.“ Strenge Richtlinien vom Abstand, den der Verkehr von Naturschutzgebieten zu halten habe, bis zum Treibstoff, den die Schiffe dort verwenden dürften, seien nötig.

Das internationale Seerecht sei auf die besonderen Verhältnisse in der Arktis nicht zugeschnitten, meint auch David Van der Zwaag, Rechtsprofessor am Dalhousie-Institut im kanadischen Halifax: „Wir brauchen bindende Regelungen.“ Schon jetzt verkehre die wachsende Zahl von Kreuzfahrtschiffen in der Arktis in einer Art rechtsfreiem Raum. Es seien nicht einmal Verantwortlichkeiten für den Fall definiert, dass es einen Unfall gebe.

Dass man die Region einfach für den Tourismus geöffnet habe, ohne an die ökologischen Folgen zu denken, bezeichnet Tatiana Saksina vom Arktis-Programm des WWF als Alarmsignal: „Wir wissen nicht, wie eine Ölverschmutzung im Eis beseitigt werden kann. Es existiert derzeit keine Technik dafür.“ Weder die Anbieter noch die Behörden machten sich bislang ausreichend Gedanken darüber, welche Gefahren für Menschenleben mit dem Arktistourismus verbunden seien: „Im Ernstfall gibt es hier erst mal weit und breit keine Hilfe.“

Beginnen sich in diesem Vakuum erst einmal „vorwiegend wirtschaftliche Interessen durchzusetzen, ist es zu spät für internationale Regelungen“, befürchtet Timo Koivurova von der finnischen Universität Rovaniemi: „Es eilt also wirklich.“

REINHARD WOLFF