: Die Geschichte des „O“
Am 8. Januar 1973 ging die US-Produktion „Sesamstraße“ erstmals bundesweit auf Sendung – und wurde zunächst heftig angefeindet, vor allem wegen der „in der Sendung auftretenden Neger“
von HARALD KELLER
Das war 1971 nicht anders als heute: Als Dreizehnjähriger ist man natürlich schon erwachsen und begegnet jeglichem Kinderkram mit Verachtung. Erst recht gilt dies fürs Fernsehen.
Doch das änderte sich umgehend, als die Nordkette, das gemeinsame dritte Programm von NDR, RB und SFB, die Originalfassung der US-amerikanischen Vorschulserie „Sesame Street“ ins Programm nahm. Auch ein Kinderprogramm, aber dieses galt von Anfang an als schick. Denn „Sesame Street“ war anders. Die Kulissen zeigten einwandfrei Amerika, wie man es aus Kinofilmen kannte, ein pittoreskes Slumviertel mit diesen kuriosen runden Mülltonnen, deren eine den griesgrämigen Oscar beherbergte. Hier wohnten Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben und struppige kleine Monstren, die auch mal schlechte Laune haben durften. Zudem gab es freche Sketche und rasante Clips, in denen zu schmissiger Musik Zahlenfolgen oder das Alphabet vorübersausten. „Sesame Street“ war schnell, witzig und bunt, kurzum Pop, und darum unter Teenagern gesellschaftsfähig. Nebenher lernte man noch ein wenig Englisch – eine willkommene Nachhilfe.
Der NDR hatte die Serie beschafft, strahlte die Originalversion aus und ließ von Pädagogen und Filmemachern eine deutsche Fassung erarbeiten. WDR und HR schlossen sich an, die Südsender der ARD aber lehnten ab. Denn deutsche Kinder, so BR-Fernsehdirektor Helmut Oeller, könnten sich mit den „in der Sendung auftretenden Negern“ nicht identifizieren. Jenseits der Staatsgrenze wandte sich Helmut Zilk vom ORF gegen den US-Import, weil er „österreichischen Kindern nicht deren eigene Umwelt zeige“. Denn: „Hier werden die Kinder bekanntlich nicht mit Negern und Puertoricanern, sondern mit Türken und Jugoslawen konfrontiert.“ Dass die Serie bei der Zielgruppe großen Anklang fand, focht den ORF-Direktor nicht an: „Auch Haschisch ist bei vielen beliebt – der Beliebtheitsgrad ist kein Beweis für Bekömmlichkeit.“
Selbst dem Spiegel schien die unerhört neue Reihe nicht ganz geheuer: „Da hämmern höllisch die Alphabete, da zucken flipperhaft Ziffern in reißendem Rhythmus, und auf flinken Alliterations-Jux (‚Lustige Leute lieben lange Leitern‘) folgt – höchst gewagt – die Geschichte des ‚O‘ und das ‚Lied von der Sechs‘.“
Dieses mediale Furioso indes hatte System und war keineswegs leichtfertig in Gang gesetzt worden. Zwei Jahre hatte das mit acht Millionen Dollar ausgestattete Team des nichtkommerziellen US-Kanals PBS investiert, um die innovative Vorschulserie sorgfältig vorzubereiten. Pädagogen, Psychologen, Filmemacher, Puppenspieler und Komponisten erarbeiteten ein Konzept, das insbesondere die Kinder aus minderprivilegierten Familien erreichen und ihnen den Einstieg in die Grundschule erleichtern sollte.
Man schuf vor den Augen der Kameras ein vertrautes Milieu, jene mittlerweile berühmte Straßenszenerie, und bediente sich der Mittel der Fernsehwerbung, um zunächst Basiswissen wie Buchstaben- und Zahlenfolgen zu vermitteln. Später wagten sich die Autoren auch an komplexere Sachverhalte wie Umweltschutz und Rassenvorurteile. Als Will Lee, in der Rolle des Ladenbesitzers Mr. Hooper eine vertraute Person, 1984 verstarb, widmete man dem Thema Tod eine einfühlsame und kindgerechte Sonderausgabe.
Die Sendereihe war doppelt erfolgreich: Nicht nur erreichte sie ihre pädagogischen Ziele, sie bescherte dem eher randläufigen und seit je finanziell schlecht gestellten PBS einen beachtlichen Zuschauerzustrom. Zudem warfen Auslandsverkäufe und die Vermarktung der Merchandising-Rechte enorme Gewinne ab, die wiederum dem Programm zugute kamen. Mit einiger Verspätung gelangte die Serie 1973 auch nach Deutschland. Deren unbeschwert-fröhliche Machart musste naturgemäß auf Vorbehalte von Programmmachern stoßen, die ihre Kindersendungen pädagogisch korrekt „Spielschule“ nannten und mit onkelhafter Betulichkeit präsentieren ließen. Zudem gab es kuriose Missverständnisse. So war ein TV-Pädagoge der Meinung, die Serie teile ihr Personal in „die Liebenswerten und die Scheußlichen“; er empfand die drolligen Puppenmonster der Serie als „Schreckgestalten“, die „die Visagen von Ungeheuern tragen“. Tatsächlich waren die vermeintlich hässlichen und missgebildeten Kreaturen wie das Krümelmonster, der übergroße Vogel Bibo und der Mülltonnenbewohner Oscar gerade geschaffen worden, um Toleranz gegenüber dem vermeintlich Andersartigen zu lehren. Nicht nur die amerikanischen Kinder, sondern auch die deutschen verstanden die Botschaft sehr wohl und waren darin vielen Medienfürsorgern meilenweit voraus.
Alle Einwände vermochten den Siegeszug der Sesamstraßenbewohner nicht aufzuhalten. Für die deutsche Version wurde Material aus den Originalepisoden übernommen und synchronisiert, vieles aber auch neu gedreht. Die zunächst in den dritten Programmen gezeigte kunterbunte Mischung kam hervorragend an. Nebenprodukte erwiesen sich als Verkaufsschlager – 230.000 Exemplare der Kinderzeitschrift Sesamstraße waren binnen kurzer Zeit vergriffen. Ganze Generationen von kleinen und nicht ganz so kleinen Kindern trällern bis zum heutigen Tag den ewig gültigen Sesamstraßen-Song: „Der, die, das/ wer, wie, was/wieso, weshalb, warum?/ wer nicht fragt, bleibt dumm“.
Der Streit um die „Sesamstraße“ hatte das vordem in kleinen Kreisen verhandelte Thema Vorschulfernsehen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht, und die Anbieter reagierten. Am 8. Januar 1973 endete der Nord-Süd-Konflikt, die „Sesamstraße“ wurde ins gemeinsame erste Programm übernommen. Darüber hinaus wurden die einschlägigen Redaktionen finanziell besser ausgestattet, es entstanden eigene Produktionen mit ähnlicher Zielsetzung, darunter die „Rappelkiste“ des ZDF.
Die vorwitzigen kleinen Ungeheuer aber, die weiland den Abscheu hochrangiger Programmverantwortlicher erregt hatten, machten noch ganz große Karriere: ab 1976 wurden sie mit der „Muppet Show“ in der Erwachsenenunterhaltung tätig und schafften sogar den Sprung nach Hollywood.