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Archiv-Artikel

Die Zeichen stehen auf Streik

Kurz vor den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen bringt die Gewerkschaft Ver.di Rot-Grün in die Klemme: Nachgeben oder hart bleiben?

von RALPH BOLLMANN

Für die rot-grünen Wahlkämpfer in Hessen und Niedersachsen ist das Szenario alles andere als gemütlich. Was ein unbefristeter Ausstand im öffentlichen Dienst bedeuten kann, hat die Gewerkschaft Ver.di bereits im Dezember vorgeführt: Schon wegen eines Warnstreiks von nur wenigen Stunden mussten mehrere hundert Flüge storniert werden. Beschert das Winterwetter vor den Wahlen am 2. Februar auch noch reichlich Schnee und Eis, könnte ein Ausstand der Räum- und Schneedienste das Verkehrschaos komplett machen.

Morgen Abend treffen sich die Unterhändler von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Potsdam zu einer letzten Verhandlungsrunde, um den dritten Streik im öffentlichen Dienst seit Bestehen der Bundesrepublik noch abzuwenden. Gewerkschaftsvertreter bezweifelten allerdings schon in den vergangenen Wochen, dass die Vertreter von Ländern und Kommunen an einer raschen Einigung überhaupt interessiert sind.

Schließlich werden sie von zwei Unionspolitikern vertreten, dem bayerischen Finanzminister Kurt Faltlhauser (CSU) und dem Bürgermeister der Stadt Wörth am Rhein, Harald Seiter (CDU). Und bei den Christdemokraten dürfte die Neigung wenig ausgeprägt sein, die SPD-geführte Bundesregierung noch vor den Wahlen am 2. Februar aus ihrem Dilemma zu erlösen. Denn die Bundesregierung steckt tatsächlich in der Zwickmühle: Mindestens genauso schlimm wie ein Verkehrschaos oder Müllberge auf den Straßen wäre der Eindruck, Rot-Grün zeige sich gegenüber der regierungsnahen Gewerkschaft besonders nachgiebig.

Das wissen die Sozialdemokraten spätestens seit 1974, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt die Tarife im öffentlichen Dienst um elf Prozent erhöhte und den Haushalten damit eine Last von 15 Milliarden Mark aufbürdete – und das in einer ähnlichen Situation, in der sich sein Nachfolger Gerhard Schröder heute befindet: Die erste Ölkrise hatte das Wirtschaftswachstum kräftig abgeschwächt und die öffentliche Verschuldung emporschnellen lassen.

Dass Brandt im Januar 1974 schon nach einem Streik von nur drei Tagen nachgab und die SPD-nahe Gewerkschaft nicht auf seine Sparpolitik einschwören konnte, trug zu seinem Ansehensverlust bei – und damit auch zu seinem Rücktritt wenige Monate später. Da hatte er bei einer Landtagswahl bereits die erste Quittung bekommen: Am 3. März verlor die SPD ihre absolute Mehrheit in der Hamburger Bürgerschaft.

Mit guten Ratschlägen für seine Parteifreunde meldete sich dieser Tage der frühere Berliner Bürgermeister Walter Momper (SPD) zu Wort. Als vorbildhaft empfahl er sein eigenes Verhalten, als im Winter 1989/90 die Berliner Kita-ErzieherInnen elf Wochen lang streikten. Es war der längste Streik, den es im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik je gegeben hat – und er endete, ohne dass Momper den Gewerkschaften irgendein Zugeständnis gemacht hätte.

Ein bundesweiter Ausstand mit Müllbergen auf den Straßen und einem lahm gelegten Nahverkehr ist allerdings weit schwerer durchzustehen. Diese Erfahrung musste schon die Kohl-Regierung machen, die 1992 nach einem elftägigen Streik nachgeben musste. Sie akzeptierte einen Tarifabschluss in der Größenordnung des Schlichterspruchs, den sie vor dem Streik noch ähnlich strikt abgelehnt hatte wie diesmal Innenminister Otto Schily (SPD).

Den Gedanken, mit gezielten Aktionen in Hessen und Niedersachsen den politischen Druck zu verstärken, weist die Gewerkschaft aber von sich. „Das wäre kurzsichtig von uns“, sagt ein Ver.di-Sprecher. Bei den wahlkämpfenden Politikern ist die Botschaft ohnehin angekommen. So hat Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel einen Kompromiss erdacht, der die SPD aus ihrem Dilemma befreien könnte. Gabriel schlug gestern vor, „den Leuten, die wenig verdienen, mehr zu geben, und dafür oben deutliche Zurückhaltung zu üben“. Damit signalisiert er ein bisschen Härte – und hält sich trotzdem die Chance offen, ein Verkehrschaos auf Flughäfen und Autobahnen zu verhindern.