: Einsame Wahrheiten
Verteidiger von Mounir El Motassadeq werfen Bundesanwaltschaft und den US-Behörden vor, entlastendes Material zurückzuhalten
von ELKE SPANNER
Aus den Anklägern sind Angeklagte geworden. Die Verteidiger von Mounir El Motassadeq unterstellen der Bundesanwaltschaft (BAW), Protokolle des wichtigsten Zeugen im Verfahren um die Anschläge des 11. September zurückzuhalten: Die BAW verfüge über Mitschriften der Aussagen von Ramzi Binalhibh, so gestern Rechtsanwalt Hartmut Jacobi vor dem Hamburger Oberlandesgericht (OLG), und halte diese als Beweismittel zurück. Denn die Aussagen des in den USA inhaftierten mutmaßlichen Mitattentäters würden ihren Mandanten entlasten, dem von der BAW vorgeworfen wird, die Attentate mit vorbereitet zu haben. Jacobi beantragte, Vertreter der Bundesanwaltschaft gerichtlich zu der Frage zu vernehmen, ob sie über das Material verfügen. Bundesanwalt Walter Hemberger wird demnächst als Zeuge in dem Verfahren auftreten, in dem er Hauptankläger ist.
In dem seit Oktober andauernden Prozess wird immer auffälliger, dass das Gericht kaum auf die Unterstützung anderer Behörden zählen kann. Auch nicht auf die der USA – obwohl das US-amerikanische Justizministerium in der Entscheidung über ein deutsches Rechtshilfeersuchen selbst die Bedeutung einer Zusammenarbeit bei der Aufklärung der Ereignisse des 11. September herausgestrichen hat. Mit genau diesem Schreiben von Anfang der Woche jedoch lehnten die USA die Bitte des OLG ab, dort zwei Zeugen vernehmen zu dürfen. Die Ablehnung erfolgte ohne Grund – wie auch schon die Zurückweisung des Antrages, Ramzi Binalshibh befragen zu dürfen. Das OLG hat sich damit abgefunden und beabsichtigt, Binalshibh als „unerreichbar“ zu erklären.
Dagegen aber haben gestern Motassadeqs Verteidiger protestiert: Das Gericht solle erneut über die Bundesregierung die USA an die „Verpflichtung erinnern, gemeinsam die Hintergründe der Anschläge aufzuklären“. Offenbar sei den US-amerikanischen Behörden die Bedeutung der hiesigen Beweisaufnahme nicht bewusst. Wer aber ein ernsthaftes Interesse daran habe zu erfahren, wie es zu den Attentaten kommen konnte, so Anwalt Jacobi, „der kann nicht gleichzeitig die Wahrheitsfindung unmöglich machen“.
Diese Ermahnung richtete sich auch an die Bundesanwaltschaft. Die behauptet, über keine Protokolle der Aussagen Binalshibs zu verfügen und folglich auch keine vorlegen zu können. Der Spiegel aber hatte Anfang Dezember andere Informationen: Danach hat der amerikanische Geheimdienst CIA bereits eine Woche nach der Verhaftung Binalshibs im September erste Zusammenfassungen der Aussagen beim Bundesnachrichtendienst abgeliefert. Seither würden regelmäßig aktuelle Dossiers nachgeliefert – nur nicht an das Hamburgische OLG.
Würde auch das die Protokolle zu lesen bekommen, so die Überzeugung von Motassadeqs Verteidigern, würde die Anklage gegen ihren Mandanten zusammenbrechen. Die Dokumente nämlich würden belegen, dass die Anschläge nicht in Hamburg, sondern in Afghanistan geplant und vorbereitet worden sind – und Motassadeq davon keine Kenntnis hatte.
Der Prozess wird fortgesetzt.