: „Unstillbare Sehnsüchte“
Dagmar Herzog, Jahrgang 1961, ist seit 2005 Professorin für Geschichte am Graduate Center der City University of New York. Herzog gilt als eine der führenden amerikanischen Historikerinnen auf dem Gebiet der modernen deutschen Geschichte. Sie lehrt und publiziert in den Bereichen Sexualität, Gender, Religion und politischem Wandel. Jeden Montag schreibt sie über die Verfasstheit der Changing Nation bei taz zwei FOTO: MATTHIAS LUEDECKE
Nach Jahren religiös-konservativer Orientierung in den USA, vor allem in puncto Sex: eine Bilanz der Angstmache, der evangelikalen Gräuelpropaganda – und der liberalen Feigheit, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu artikulieren. Ein Gespräch mit der Sexualhistorikerin Dagmar Herzog
INTERVIEW JAN FEDDERSEN
Dagmar Herzog fährt während der Vorlesungszeiten mit dem Zug in die City University in New York. Sie, verheiratet und Mutter einer Tochter, empfängt in ihrem zehn Quadratmeter kleinen Büro an der Fifth Avenue, aus dessen Fenster man das um die Ecke liegende Empire State Building sehen kann. Die Professorin im Fachbereich Geschichte mit dem Schwerpunkt Sexualität, die von ihrem Dekan „das Model unseres Fachbereichs“ genannt wird, hat gut zu tun: In Zeiten des Wahlkampfs ist sie, Autorin des Buches „Sex in Crisis“ und vehemente Kritikerin der evangelikalen Rechten, eine begehrte Gesprächspartnerin.
taz.mag: Frau Herzog, weshalb müssen Sie immer über Sex schreiben?
Dagmar Herzog: Weil es nötig ist. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung hat doch bei uns kaum eine Lobby .
Ist denn wahr, dass die USA ein Land sind, in dem die Sexualität in der Krise steckt?
Die Menschen in meinem Land sind tief verunsichert, nach der Sexuellen Revolution, nach dem konservativen Rollback des letzten Jahrzehnts. Sie glauben stark, keine Maßstäbe für das zu haben, was sie sexuell umtreibt.
Und das in dem Land mit der mächtigsten Pornoindustrie der Welt. Spricht das nicht gegen Ihre These?
Die amerikanische Welt, ob religiös-konservativ oder liberal geprägt, ist wahnsinnig sexualisiert. Heutzutage ist das Sexuelle überall präsent und jederzeit abrufbar. Die grassierende Unsicherheit ist durch die Verfügbarkeit der sexuellen Bilder eher beflügelt worden.
Warum?
Mehrere Faktoren sind da im Spiel, einer davon ist das 1998 auf den Markt gebrachte Viagra. Dieses Mittel hat vielen geholfen, aber auch neue Fragen aufgeworfen. Törnt die Droge an oder der Partner? Gilt das Begehren dem Akt oder dieser spezifischen Person? Es ist schon merkwürdig, dass so bald nach Viagra – weniger als fünf Jahre später – eine Megadiskussion in den USA eingesetzt hat, ob die Leute überhaupt noch Lust auf Sex haben. Die Beliebtheit des Internetporno hat diese Frage noch verschärft. Die konservativen Experten warnen gerne, mehr und mehr Männer würden die Maschine mehr lieben als ihre Frau.
Was bedroht Pornografie?
An und für sich nichts. Für viele ist sie eine Bereicherung der Zweisamkeit, für andere bietet es einen Freiraum, ein wenig Luft außerhalb der Partnerschaft. Aber die Diskussionen um die Pornoexplosion haben auch zur Folge, dass mehr und mehr Menschen sich fragen, wie Sex und Liebe noch zusammenhängen können, was die Beziehungen sind zwischen den Fantasien im Kopf, dem Lustgefühl im Körper, und dem anderen Menschen im Bett …
… und reden darüber?
Unentwegt. Jeder fragt sich plötzlich: An wen denkt mein Partner, wenn er oder sie mit mir schläft? Was stimuliert? Bin ich es, der dies bewirkt – oder ist das ein Bild, von dem ich glaube, dass ich ihm nicht genügen kann.
Die Ära von Achtundsechzig versprach sich von der Befreiung des Sexuellen eine befreite Gesellschaft überhaupt. Nun scheinen die Früchte faul zu schmecken.
Ich denke, die Sexuelle Revolution war eine große Befreiung nach den Verklemmtheiten früherer Zeiten. Aber sie hat auch Ambivalenzen hervorgebracht.
In welchem Sinne?
Dass Leute nicht mehr wussten, wie man mit Wünschen nach Monogamie umgeht. Ist Treue spießig? Muss ich dieses oder jenes praktizieren, um glücklich zu sein? Aus der Frage nach dem Dürfen ist eine Tendenz des Ständig-sich-mit-anderen-Vergleichens geworden. Plötzlich gibt es eine Menge Unzufriedenheit.
Worüber?
Zum Beispiel, dass Sex nicht perfekt ist.
Gibt es das: perfekten Sex?
Natürlich nicht. Das Imperfekte ist doch gerade das Interessante und Schöne am Sex. Und was heißt schon Perfektion? Menschen haben manchmal im Leben unglaublich tolle sexuelle Erlebnisse. Das kann aber auch mit einem Fremden sein. Das kann ein, zwei, zehn Mal mit dem langfristigen Partner passiert sein. Es ist immer ein Geschenk, nichts Erzwingbares.
Wie tröstlich. Aber ist der Traum vom ewig perfekten Sex nicht in jedes sexuelle Begehren eingeschrieben?
Gut möglich. Wichtig aber ist zu wissen, dass das Ultimative eben ein rares Gut ist. Doch die Hoffnung kurbelt die Wirtschaft an. Auch die Psychologie lebt von dieser Sehnsucht – jede Beratung, jede Therapie, jeder Diskurs über das Sexuelle weckt die Hoffnung, es könnte sexuell alles noch besser werden.
Das Ideal – dem man ausgeliefert ist, sich unterworfen hat?
Es kommt vielen Menschen wie eine Geißel vor, die sie sich aber zugleich nicht vom Leib halten können. Alle fragen sich: Warum bin ich unzufrieden? Liegt es an mir? An meinen Wünschen? Am Partner? Es ist genau diese massiv ausufernde Unsicherheit ob der Beziehungen zwischen sexuellem Verlangen und Intimität, Körpergefühlen und Gedankenwelt, die ein riesiges neues Aktionsfeld für die evangelikale Rechte eröffnet hat. Und die dazu geführt hat, dass Liberale in die Defensive gedrängt wurden und glauben, Sexualität nur in bestimmten Rahmen verteidigen zu können.
Im ehelichen, nicht wahr?
Ja, in der Privatsphäre eines Paares, primär des ehelichen. Das gilt als legal und legitim. Wir haben in den USA ein sehr paarfixiertes Denken.
Und wenn schon!
Einspruch: Die Idee der Selbstbestimmung ist individuell gemeint. Das Denken in Paaren ist besonders für Frauen und Mädchen fatal. Weibliche sexuelle Aktivität gilt als suspekt. Wenn ein weibliches Verhalten auf den Ehemann gerichtet wird, macht es nichts, aber wehe, sie ist Single und guckt sich um.
Ist das auch so in libertären Metropolen wie New York, San Francisco oder Los Angeles?
Ja, irrsinnigerweise auch dort. Es wird zwar anders gelebt, aber nicht darüber gesprochen.
Woran liegt das?
Weil niemand, auch nicht die Liberalen, die Courage haben zu sagen: Sex ist okay. Ich bestehe aber darauf: Eine selbstbestimmte Sexualität muss verteidigbar sein, auch wenn sie nicht perfekt ist. Warum können wir nicht über sexuelle Rechte reden anstatt nur über Viagra?
Was soll daran schlecht sein, wenn jemand möchte, aber eine chemische Hilfe benötigt?
Nichts. Viagra ist für viele wunderbar. Aber mann sieht an der Suche nach einem ähnlichen Mittel für Frauen, was für andere Motive im Spiel stecken. Die Marktlücke Frauen ist ja riesig. Vor acht Jahren wurde also eine neue Krankheit entwickelt, die heißt „female sexual dysfunction“.
Entdeckt?
Nein, erfunden. Als ob Lustlosigkeit mit fehlenden Chemikalien in einem weiblichen Körper zu tun hat. Aber allein die Debatte um diese angebliche Krankheit hat viel Unsicherheit gestiftet. Pharmakonzerne gaben sich feministisch und sagen, es ginge hier um Frauenrechte. Aber was wirklich bei uns läuft, ist ein Riesenbacklash gerade gegen Frauenrechte, angeführt von den religiösen Konservativen, die unter Bush enorm Einfluss gewonnen haben – und paradoxerweise passiert dieser Backlash im Namen des Feminismus.
Erzählen Sie, bitte.
Entgegen dem Klischee der prüden Konservativen haben die Evangelikalen viel aus der Sexuellen Revolution gelernt. Sie verdammen Schwule und Lesben, aber schon seit den Siebzigern preisen sie den ekstatischen ehelichen Sex und präsentieren sich als die besten Verfechter auch des weiblichen Orgasmus. Sie führen Krieg gegen die nichteheliche Sexualität – sagen, dass außereheliche weibliche Sexualität schmutzig ist.
Klingt ziemlich dumm.
In europäischen Ohren vielleicht, aber sie argumentieren sehr clever, sie bauen auf die neuen Ängste wegen Lustverlust in der Ehe. Sie wettern gegen Onanie, Fantasie und Pornografie im Namen des ehelichen Glücks und verschärfen die Unsicherheiten, die sie vorgeben zu lindern. Die Verluste, die wir erleiden an Aufklärung, an Emanzipation, sind enorm. Noch in den Neunzigern wurde unheimlich viel dafür getan, Mädchen das Gefühl zu geben, dass ihnen ihr Körper selbst gehört und sie an die Jungs Wünsche richten können.
Wie ist es denn heute?
Das alles ist jetzt weg. In vielen Highschools wird nur Abstinenz empfohlen, und auch in jenen Highschools in den Bundesstaaten, die nun kein Geld von Bush mehr nehmen wollen, damit sie auch über Kontrazeptiva und Kondome überhaupt sprechen können, gilt Abstinenz immer noch als das höchste Ideal. Dargestellt wird das als Chance für die Mädchen, ein größeres Selbstwertgefühl zu entwickeln. „Spart euch auf!“, heißt es.
Die USA ist das Geburtsland sowohl des Feminismus wie auch der neuzeitlichen Schwulen- und Lesbenbewegung. In Metropolen wie San Francisco, New York und Los Angeles begannen die Triumphe der Sexuellen Revolution. Die war, spätestens Ende der Sechzigerjahre, auch in heterosexuellen Kernmilieus populär.
In vielen Bundesstaaten sind, wenigstens auf dem Papier, bestimmte sexuelle Praktiken nach wie vor verboten – Oral- oder Analsex beispielsweise, für Homos wie Heteros. Kalifornien hat als zweiter Bundesstaat in diesem Jahr, nach dem Ostküstenstaat Massachusetts, wiederum nach einem höchstrichterlichen Spruch, die Homoehe legalisiert. Der eher liberale republikanische Gouverneur Arnold Schwarzenegger begrüßte das Urteil. Einem Plebiszit von Konservativen gegen die same-sex-marriage werden nur geringe Chancen eingeräumt.
Die politische Bewegung von Republikanern (und vor allem ihrer klerikalen Teile) scheiterte mit ihrem Versuch, in die Verfassung ein Verbot der Homoehe zu implantieren, am Widerstand der Demokraten und weniger republikanischer Senatoren. Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin bekundete als Gouverneurin in Alaska, dass sie strikt gegen die Homoehe sei, aber gesprächsbereit für kleinere Rechte zugunsten homosexueller Paare. Dennoch ließ sie laut New York Times 1995 ein Buch in einer öffentlichen Bibliothek verbieten. Darin ging es um die Geschichte eines Jungen, der bei einem gleichgeschlechtlichen Paar aufwächst.
An US-amerikanischen Schulen wird Sexualaufklärung bundesstaatlich nur gefördert, wenn sie die Moral von vorehelicher Abstinenz, Antihomosexualität und Abtreibungsgegnerschaft befördert. An den allermeisten Highschools – deren pubertierende SchülerInnen dieses Wissen dringend bräuchten – wird das Thema überhaupt nicht behandelt.
In der Schulpraxis wird das Sexuelle nicht als Möglichkeit, als Quelle der Lust behandelt, als Mittel des Selbstausdrucks, sondern als Gefahrenherd schlechthin. Überall drohen Bakterien, Viren und Schmutz überhaupt den menschlichen Körper zu versehren. Gelehrt werden krudeste Formen des Aberglaubens: Dass man vom Küssen schwanger werden kann, dass Gott gegen die Pille sei, dass Kondome Verhütungsmittel des Teufels seien, sündig und gegen die Schöpfung.
Gerade an Schulen, wo Sexualkundeunterricht wie eine voodooistische Unterweisung praktiziert wird – wenn überhaupt –, gibt es deshalb einen extrem hohen Anteil an Teenagerschwangerschaften. Unter den Industrienationen haben die USA den höchsten Anteil an Schwangerschaften von Minderjährigen – die meisten wussten nicht, wie man eine Schwangerschaft verhindert. Oder hatten keine Ahnung, wie sie mit ihrem Partner an Verhütungsmittel kommen.
Nach offizieller Statistik kamen im Jahre 2006 auf tausend Mädchen zwischen fünfzehn und neunzehn Jahren 42 Geburten; in Kanada waren es nur deren dreizehn, in Deutschland elf – ein drastisches Zeichen, dass die von Religiösen lancierten Abstinenzkampagnen wirkungslos blieben.
Tödliche Folgen haben die Kampagnen der religiösen Rechten obendrein immer gehabt: Gesundheitsexperten gehen davon aus, dass die Agitation gegen Kondome einen Anstieg der HIV-Neuinfektionsrate zur Folge hatten. Die Prävention mit einem Präservativ funktioniere nicht perfekt, weshalb man es, so die Schlussfolgerung, offenbar auch ganz weglassen kann beim Sex. JAF
Wie konnte es diese Renaissance der Prüderie und Angst geben? Gab es nicht in den Neunzigern einen Präsidenten der Demokraten?
Das war einfach Zufall, dass wir einen liberalen Präsidenten hatten, der Schwierigkeiten hatte, treu zu bleiben – und daher sich selbst mundtot machte, als die Konservativen die Abstinenzerziehung pushen wollten. Das Volk selbst hatte noch Ende der Neunziger völlig gelassene Einstellungen gegenüber dem vorehelichen Sex. Das hat sich dann unter Bush schlagartig geändert. Clinton hatte keine Lust, Sex zu verteidigen, denn das wäre politisch für ihn noch brisanter gewesen. Mit Bush sind dann die Gelder für die Abstinenzerziehung ums Fünffache erhöht worden.
Was war vor dem Bashing von Clinton die sexuelle Wahrheit der USA?
Eine unspektakuläre. 1994 wurde die letzte richtig wissenschaftliche Studie vom Sexualleben der Amerikaner veröffentlicht. Die erste Untersuchung seit Kinsey in den frühen Fünfzigern. Und die Forscher haben wirklich systematisch geguckt: Wer macht was? Wie denken die Leute darüber, was sie machen?
Und was kam heraus?
Dass die meisten Leute treu sind. Dass sehr wenige viele Partner haben. Dass die meisten ziemlich wenig Oral- und Analsex machen, dass einmal die Woche das Durchschnittsmaß war. Ein Bild von fast frömmster Spielart. Aber auch einfach ein großes Maß an zufriedener Genügsamkeit.
Wie fiel die öffentliche Reaktion aus?
Cool. Alle konnten ganz beruhigt sein. Zugleich ist aber beachtenswert, dass die Wissenschafter damals ebenso herausfanden, dass 43 Prozent der Frauen irgendwelche sexuellen Schwierigkeiten erlebten, auch 31 Prozent der Männer. Ein Drittel der Frauen hatte ziemlich oft keine Lust, bei den Männern immerhin noch ein Sechstel. Keiner aber interessierte sich für diese Fakten.
Wann wurden sie doch als interessant wahrgenommen?
Einer der Autoren der Studie schaute sich 1999 die Befunde zusammen mit neuen Kollegen abermals an. Und plötzlich deuteten sie die Ergebnisse, dass die sexuellen Schwierigkeiten und Lustlosigkeiten, die vorher niemanden als dramatisch aufgefallen waren, nun mit niedrigem Klassenstatus, mit niedriger Bildung und mit schlechter Gesundheit verknüpft sind.
Naheliegend, oder?
Klar. Menschen, die schlecht ernährt sind, die an Krankheiten leiden, keine finanziellen Ressourcen haben, spüren auch weniger sexuelle Lust. Es ist banal: Ärmere Leute haben eher sexuelle Schwierigkeiten. Und das sei, so sagten die Wissenschafter, ein Problem für die öffentliche Gesundheit und müsse behoben werden.
Ging man das Problem an?
Die Forscher hätten auch anders verstanden werden können: Die schlechte Krankheitsversorgung muss bekämpft werden, dann gibt es auch weniger sexuelle Probleme. Aber im Gegenteil. 2003 waren alle Nachrichten damit voll, dass die Leute keine Lust auf Sex hätten, die Libido sterbe. Plötzlich hielten das alle für glaubwürdig. Dabei war das Zahlenmaterial, auf das sich diese These stützte, aus der Studie der frühen Neunziger entnommen.
Welche Rolle spielten die christlichen Organisationen?
Eine sehr starke, sehr selbstbewusste und extrem missionarische. Aber eben nicht, wie man sich vielleicht denken würde. Sie verdammten Sex nicht. Sie sagten, wenn du dich zu dem Porno hingezogen fühlst, wenn du deine Ehefrau nicht mehr attraktiv findest, wenn du Schwierigkeiten hast, die Treue zu halten und zugleich befriedigt zu sein, na dann, Jungs, lest unsere Bücher, kommt zu unseren Wochenendworkshops, wir kurieren euch. Und das wäre ja einfach eine Kuriosität, wenn es innerhalb der evangelikalen Subkultur bleiben würde.
In Deutschland sind sie marginal.
Ich weiß, aber bei uns ist das anders. Drei Millionen verkaufte Anti-Onanie-Bücher für Eheleute seit dem Jahr 2000 zeugen schon von einer recht starken Subkultur – und offensichtlich von einem Ozean an Kummer in der amerikanischen Ehelandschaft. Aber das Problem ist ja, dass die gleichen Organisationen auch das Sagen hatten, wie die Milliarden für die HIV-Prävention in Übersee ausgegeben werden sollten – und sie insistierten darauf, dass nicht nur viel Geld in Abstinenz- und Monogamiegebote gesteckt wurde, sondern auch ganz konkret, dass Kondome verunglimpft wurden. Eine menschenfeindliche, letztendlich mörderische Sexualpolitik.
Wie konnten die Klerikalen die Deutungshoheit übernehmen?
Indem sie das Unbehagen an der sexuellen Freiheit offensiv aufgriffen. Bis in die Neunziger wirkten die Evangelikalen nicht glaubwürdig: Die lehnen ja Sex überhaupt ab, hieß es, da lohnt sich kein Nachdenken. Seit die Medien alle Probleme mit der sexuellen Freiheit erklären, haben die Rechten die Diskursregeln zu ihren Gunsten umgedreht.
Hat das denn von den Liberalen und Linken keiner gemerkt?
Nein, denn die religiöse Rechte ging sehr subtil zu Werke. Die haben alle biblischen Verweise aus ihren öffentlichen Äußerungen getilgt – und wirkten auf den ersten Blick sehr säkular. Sie sagten: Wir dürfen es nicht religiös verpacken.
Homophob waren christliche Strömungen letztlich ja immer.
Die religiöse Rechte hat die wachsenden Ansprüche der Schwulen- und Lesbenbewegung seit Ende der Achtziger konsequent zum Thema gemacht – und gegen sie politisch mobilisiert. Sie verlegten sich nicht mehr auf biblische Horrorgeschichten, sondern auf den Topos vom angeblich gesunden Menschenverstand. Dass Gott eben Adam und Eve erschaffen hat, nicht Adam und Steve. Und diese Kampagne gegen gleiche Rechte für Lesben und Schwule war geplant, die fiel nicht einfach vom Himmel – die hatte ein Konzept.
Hat dieser religiöse Eifer niemanden erzürnt?
Zunächst nicht, weil es gegen eine Minderheit gerichtet war, und die Mehrheit wähnte sich erhaben und unantastbar. Aber seit der Jahrtausendwende spielen die Rechten auf der Klaviatur eben all der Enttäuschungen, die viele Menschen ja glaubten beim Sex erlebt zu haben. Sie haben nun auch den Heterosexdiskurs übernehmen können.
Was war denn das Lockangebot der Rechten und Religiösen?
Eben die sexuelle Perfektion – aber die sei nur in der Ehe möglich. Alles ist dann erlaubt. Die Hauptlast aber fällt in der rechten Vorstellung natürlich den Frauen zu. Wenn er nicht will, muss sie sich mühen. Aber grundsätzlich kann es fantastischen Sex geben und soll es auch.
Bis zur Trauung …
… gilt natürlich für alle Enthaltsamkeit.
Herzog aktuellstes Buch „Sex in Crisis: The New Sexual Revolution and the Future of American Politics“ erschien 2008 in Englisch bei Basic Books, New York, 320 Seiten, 20,99 Euro. Eine deutsche Übersetzung gibt es zu „Die Politisierung der Lust: Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts“, Siedler, München, 2005, 431 Seiten, 24,90 Euro FOTO: ARCHIV
Und wer das nicht schafft?
Jetzt kommen wir auf den zweiten Trick der religiösen Rechten, mit dem sie die moralische Macht errungen hat. Bei Nichteinhaltung dessen, was einzig richtig ist, droht keine Hölle mehr, sondern die Vergebung auf Erden, weil Gott den reuigen Sünder mehr liebt als jeden anderen. Deshalb konnte auch Sarah Palin, die Vizepräsidentschaftskandidatin der Republikaner, so erfolgreich ihre schwangere Tochter vorzeigen: Sie war nicht verheiratet, aber wenigstens treibt sie ihr werdendes Kind nicht ab. Überhaupt beichten die Konservativen sehr gerne und ausführlich ihre eigenen Sünden – sie prahlen fast damit. Dadurch wirken sie authentisch und erfahren, und vor allem schaffen sie es dadurch, etwaige liberale Kritik vorwegzunehmen.
Sie wirken so entsetzt ob des konservativen Diskurses?
Ich bin es auch. Ich habe es so satt, dieses ganze heuchlerische Geschnatter. Die Scham, die Mädchen wieder eingebleut wird, die Überheblichkeit, mit der Familienplanungsorganisationen als das schlimmste Übel attackiert werden, die gnadenlose Homophobie – wo die Konservativen doch selbst gerne alle sexuellen Techniken von Homosexuellen für den schöneren ehelichen Sex abgeguckt haben. Und dann diese entweder protzend-grinsende oder pseudoverschämte Selbstentschuldigung, wenn irgendein einflussreicher Konservativer doch wieder mal beim Sündigen erwischt worden ist.
Wird es in den USA auch wieder bessere Zeiten geben?
Na, ich hoffe doch. Diese Aufladung aller Themen mit Sex, die wird abebben. Man wird feststellen: Der Kaiser hat keine Kleider, er ist nackt.
Wagt denn wenigstens Barack Obama, dies zu sagen?
Nein, das kann er offenbar nicht riskieren. Er würde alle seine Chancen, schätze ich, einbüßen, würde er sagen, die Idee der sexuellen Abstinenz bis zur Ehe sei Unfug. Oder nur dann okay, wenn einer sich bewusst und persönlich dafür entscheidet – nicht weil er sonst ein Höllenfeuer fürchtet.
Aus dem Lager Obamas könnte doch wenigstens der Zusammenhang zwischen sexuellem Unwissen und ungewollten Schwangerschaften dargestellt werden?
Das erwarte ich nicht, und das wäre vielleicht auch zu viel verlangt nach all den Jahren der konservativen Aggression. Niemand, der die Präsidentschaft gewinnen will, kann sich hinstellen und sagen, in den Schulen fehlt es an Sexualaufklärung, die keine Angst macht. An Wissen über das Sexuelle überhaupt. Barack Obama repräsentiert mit seiner Familie genau jenes Bild, das für die religiöse Rechte auf dieser Ebene nicht angreifbar ist.
Wie kann die Atmosphäre der sexuellen Einschüchterung wieder aufgelöst werden?
Ich glaube, dass die Sehnsüchte der Menschen nicht löschbar sind. Und dass in dieser Erkenntnis die Möglichkeit steckt, dass die religiöse Rechte nicht alles kaputt treten kann. Es verstört mich jeden Tag, dass die Konservativen das Sexuelle so beherrschen, aber die Leute sind in diesem Bereich sehr leicht manipulierbar. Es ist keine Überraschung, dass es politisch mobilisierbar ist, aber es wäre gut, wenn wir versuchen würden, das Thema zu wechseln.
Die Evangelikalen in den USA verlegen sich neuerdings auf Themen wie Armut oder Gerechtigkeit. Ist das schon ein Fortschritt?
Nicht unbedingt. Was heißt es schon, wachsende Armut zu beklagen und gegen sie zu kämpfen, aber gleichzeitig sexuelle Selbstbestimmung für absurd halten? Wir müssen wieder fragen lernen: Was würde unsere Kinder glücklich machen? Was würde uns glücklich machen? Wenn wir das ernst nehmen und nicht mehr gegen Gegner ankämpfen müssten, die schreien „Abtreibungsrechte? Nein, das ist Mord“ – und die übrigens neuerdings versuchen, auch Pille und Spirale als Abbruchsmethoden umzudefinieren.
Was würden Sie lieber sagen?
Ich fänd’s schöner, wenn die Abtreibungsgegner sagen würden: „Hey, wie ist das denn mit diesem Sexspielzeug? Vielleicht könnte man Orgasmen haben, ohne schwanger zu werden.“ Das wäre doch Brücken bauend, oder?
JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist taz.mag-Redakteur und bezweifelt – in sexueller Hinsicht – die ew’ge Macht der Religiösen