: Reigen um das Krankenbett
Gottes Hand spielt immer mit: Die dänischen Dogma-Filme arbeiten am liebsten mit Unfällen und Schicksalsschlägen, mit kranken und verwirrten Figuren – so auch Susanne Biers „Open Hearts“
von STEFAN DAVID KAUFER
Eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs: Das ist die Zusammenfassung von „Kira“, dem Dogma-Film, der vergangenen Oktober zu sehen war. Der Regisseur, Ole Christian Madsen, vertraut ganz auf seine weibliche Hauptfigur, die er in eine Mischung aus Wahnsinn und ewigem Kindsein abgleiten lässt. Verpackt ist die Story in eine Ästhetik, die sich sehr weit von den frühen Einschränkungen des dänischen Dogmas entfernt hat. Oft ist das Licht gleichmäßig, die Kostümierung ausgewählt stilvoll und das Ruckeln der Kamera sanft bis verschwunden. Was vom harschen formalen Anspruch aus dem Jahr 1995 bleibt, ist die Nähe zu den Figuren. Vom Homevideo-Format ist sie jedoch ins Kammerspielhafte gehoben.
Auch „Open Hearts“ präsentiert seine Bilder recht wohlfeil, wie in einem gut inszenierten Dokumentarfilm. Wichtig ist, womit wir uns hier beschäftigen. Und dabei handelt es sich erneut um das Thema Krankheit, die in den Alltag einbricht. „Ich liebe dich auf ewig“, heißt Susanne Biers Film im Original. Doch diesem Ideal widerspricht das wachsame Kamera-Auge, wenn auch nicht im Rahmen des psychischen Ausgleitens. Stattdessen fühlt man sich ins Jahr 1996 zurückversetzt, denn wir finden uns in beinahe derselben Handlung wieder wie in „Breaking the Waves“ von Lars von Trier: Es gibt das perfekte Paar. Doch ein Unfall geschieht, der Mann ist querschnittsgelähmt. Auf die Zuwendungen seiner Partnerin reagiert er mit Ablehnung und versinkt in stummem Selbstmitleid.
Was nun noch hinzukommt, ist ein Reigen-Element. Die Fahrerin des Unglücksautos hat eine Familie mit Kindern. Ihr Mann arbeitet als Arzt in dem Krankenhaus, in dem das Opfer liegt – und beginnt eine Affäre mit der zwanzig Jahre jüngeren Frau des Kranken. Alle Beziehungen geraten dadurch aus den Fugen, und die Figuren tappen in Schuld und Sühne hinein. Auch darin hält „Open Hearts“ am Vorbild Lars von Trier fest. Doch Susanne Bier verzichtet auf Heiligenfiguren aus dem Madonnenbilderbuch und zieht einen wirklichen psychologischen Spannungsbogen auf. An dessen Beginn steht der selbstsichere, immer die richtigen Worte findende Arzt, der seiner Frau souverän die Schuld an dem Autounfall ausredet. Am Ende trinkt er, schreit und tobt, bittet seine Frau um Vergebung, bittet seine Geliebte um einen Kuss und hat doch Angst davor.
Noch überzeugender als Mads Mikkelsen spielt Sonja Richter, wenn sie in die Rolle der Frau schlüpft, die zwischen zwei Männern steht, ohne dabei irgendeine Position zu haben. Auf die Angriffe ihres kranken Freundes wie auf die Liebesbeschwörungen des Arztes kann sie meistens nur mit Schweigen und Blicken antworten, die nichts sagen und doch alles. Für diese Figur erweitert die Regisseurin das formale Arsenal und schneidet grobkörnige Bilder der zutiefst Verunsicherten in den Film hinein. Zumeist sind es Detailaufnahmen, die zum Beispiel ihre Hand zeigen. Dann tut sie Dinge, die sie in Wahrheit nicht tun kann.
Zerrüttung durch psychische oder physische Krankheit, die bis zur Verkrüppelung gesteigert wird, gehört zu den Grundsteinen des Dogma-Baukastens. Was Form und Thema vom Anspruch her verbindet, ist der Aufstand gegen das Makellos-Leichtlebige des „American Pie“. In dem Maße, in dem schlechte Ausleuchtung und baumelnde Kamera das „wahre Leben“ filmen zu können glauben, setzen auch die Drehbücher, die den Schicksalsschlag in die Durchschnittlichkeit hineininszenieren, voraus, dass sie ungeschminkte Wirklichkeit einfangen. „Du kannst die Realität nicht ästhetisch filmen“, sagt Bier.
Doch der David Dänemark richtet sich in dieser gegen den Goliath Hollywood lancierten Logik etwas zu bequem ein. Denn wie real ist eigentlich eine Story, in der unglaubliche Zufälle reihenweise nötig sind, um einen Katastrophen-Reigen zu etablieren? Realer als die Sciencefiction-Abenteuer von „Minority Report“ oder „Spiderman“? Die extreme teuflische oder göttliche Hand, die bei Dogma regelmäßig zuschlägt, ist kaum mehr von dieser Welt.
Die Anti-Ästhetik-Haltung bewirkt also keine Alltagsgeschichte und genauso wenig eine Absage an Pathos und Moral. Das Einzige, was die Figuren auch in „Open Hearts“ über die sittlichen Stränge schlagen lässt, sind Unfall und Kranksein und die daraus resultierende Verzweiflung. Fehlverhalten wider Willen – das Verletzen des anderen trotz des nagenden Gewissens – hat immer seine übernatürliche Ursache. Im Grunde ist das ebenso christlich wie bei Lars von Trier, dreht sich doch alles um die Frage, was erlaubt ist und was nicht.
Form und Inhalt verschränken sich, sollte man meinen: Schließlich zieht Dogma seit acht Jahren seine ästhetischen Energien aus der freiwilligen Selbstbeschneidung. Die in ihrer Rigorosität manchmal schon fanatisch protestantisch anmutende Kombination aus Verbot und Verzicht setzt nach Meinung der Dogma-Regisseure Ideen und schauspielerische Glanzleistung erst wirklich frei.
Doch stellt diese Gleichung nicht eher ein Wunschdenken dar? Denn je mehr Dogma-Filme gemacht werden, desto verzichtbarer scheint deren früher so strenge Nicht-Hollywood-Form zu werden. Ole Christian Madsen gibt freimütig zu, seinem Hauptdarsteller für „Kira“ einen schönen Anzug gekauft zu haben. „Das verstößt gegen die Regeln, da keine zusätzlichen Dekorationen oder Kostüme erlaubt sind.“ Und Susanne Bier hält die Beschränkung, „dass der Ton auf jeden Fall gleichzeitig mit dem Bild aufgenommen wird“, für einen Schwachpunkt, auf dessen „restriktiven Faktor“ sie gerne verzichtet hätte. Kaum möglich scheint aber ein Dogma-Film ohne Gottes unbegreiflich wütendes Dreinschlagen in die Menschheit, das von Wahn, Trauma und Kranksein (aus-)gezeichnete, hochkünstliche Figuren hervorbringt. Auf einer langen Leiter des Hinabsteigens in die ewige Leier der Wiederholung nimmt „Open Hearts“ jedoch einen herausragenden Platz ein – wegen einer nagenden, psychologisch tief gehenden, im besten Sinne der antiken Göttergewalt tragischen Geschichte.
„Open Hearts“, Regie: Susanne Bier. Mit Mads Mikkelsen, Sonja Richter, Nikolaj Lie Kaas u. a., Dänemark 2002, 113 Minuten