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Archiv-Artikel

Die Schule vor der Schule

Deutschprüfung vor der Einschulung: Wie eine politische Entscheidung bei Familien ankommt. Im Kindergarten wurde Deniz in Hinblick auf seine Deutschkenntnisse beobachtet. Nun soll er zur logopädischen Therapie, die Einschulung steht in Frage

„Mein Kind nimmt Schaden, wenn es schon mit fünf diesen Stempel hat“

von KAIJA KUTTER

„Es gibt wohl ein neues Gesetz. Wenn die Kinder zur Schule kommen, müssen sie perfekt Deutsch sprechen“, erklärt Seygi Senol*. Die Türkin spricht fließend Deutsch und hat ihrer Nachbarin Gülay Özal* in den vergangenen Wochen viel gedolmetscht. Ihr Fazit nach mehreren Gesprächen mit Lehrerinnen und Pädagogen: „Die haben uns reingelegt.“ Was Bildungssenator Rudolf Lange (FDP) als Förderung von Deutschkenntnissen proklamiert, kommt bei ihnen als Bedrohung an. Eine ganz persönliche Geschichte:

Gülay Özal wohnt mit ihrem Mann und zwei kleinen Töchtern in einem Neubauviertel im Osten der Stadt. Anfang Dezember erhielt sie von der Lehrerin der örtlichen Grundschule einen Anruf, in dem diese „Alarm schlug“, wie sie es nennt. Sie habe ihren fünfjährigen Sohn Deniz* beim Spielen im Kindergarten beobachtet. Er spreche kaum Deutsch und müsse deshalb an einer speziellen Schule getestet werden. Über einen Bekannten ließ die Lehrerin die Telefonnummer der Schule übermitteln. „Seither habe ich kaum geschlafen. Die haben mich psychisch fertig gemacht“, sagt Özal. Immer wieder fragt sie ihre Freundin: „Mein Kind ist doch normal, oder?“

Die beiden Frauen versuchen herauszubekommen, um was für eine Schule es sich handelt. Sie liegt vier Kilometer entfernt, immerhin eine Stunde zu Fuß. Senol: „Die wollten es nicht offen sagen. Aber in meinen Augen ist das eine Sonderschule.“ Anfang Januar gingen Frau Özal und ihre Nachbarin schließlich mit dem Kind zu einem Gespräch dorthin. „Eine Lehrerin hat einen 30-minütigen Test gemacht. Danach hat sie sagt, Deniz muss jetzt jede Woche kommen. Und wenn er es bis zum Schulbeginn nicht packt, zwei Jahre dort zur Schule gehen“, berichtet die Übersetzerin. Für Mutter Gülay Özal eine inakzeptable Vorstellung. „Mein Kind hat es nicht mit dem Kopf, sondern nur mit der deutschen Sprache Schwierigkeiten. Ich möchte, dass es ganz normal zur Schule kommt.“ Der Junge hat im Frühjahr seinen sechsten Geburtstag und ist somit im Sommer schulpflichtig. Allenfalls vorstellbar wäre für Frau Özal, dass ihr Kind ab Sommer erst mal die Vorschule um die Ecke besucht.

Beim Test war sie nicht dabei. Die Farben habe Deniz nicht richtig benannt, die Bauklötzer zu hastig gezählt, erfährt sie später von der Pädagogin. Es brauche eine logopädische Therapie. Was folgte, schildern Özal und Senol so: „Ich hatte den Eindruck, die wollte Deniz unbedingt an sich ziehen“, berichtet Seygi Senol. Dass ein Kind mit fünf nicht alle Farben korrekt benenne, sei doch nicht ungewöhnlich. „Das kann es doch schnell lernen.“

Deniz malt mit Kugelschreiber ein Bild und schreibt seinen Namen daneben. „Freust du dich auf die Schule?“ Er nickt. Schüchtern sei er schon immer gewesen, sagt die Nachbarin. Fremden gegenüber sage er selten ein Wort. Seygi Senol hat selber zwei Kinder an der örtlichen Grundschule und möchte deshalb nicht, dass ihre Namen in der Zeitung stehen. Deniz schreibt deshalb einen Phantasienamen auf das Kugelschreiberbild, das sein Haus und seine Eltern auf einem Balkon darstellt. Ein Laie könnte dies als Schulreife deuten. Die Familie war bisher sogar davon ausgegangen, dass das Kind sprachbegabt ist. Lernte er doch neben seiner Muttersprache zwei kurdische Dialekte.

Was denn so schlimm wäre, wenn er auf die spezielle Schule geht? „Ich fürchte, dass mein Kind einen psychischen Schaden nimmt, wenn es schon mit fünf Jahren diesen Stempel bekommt“, sagt die Mutter. Sie sei mit ihm beim Kinderarzt gewesen: „Der hat nur gelacht und gesagt, Deniz ist ganz normal.“ Auch die Sozialarbeiter in dem Stadtteilzentrum, in dem Gülay Özal einen Nähkurs besucht, seien überzeugt, dass ihr Sohn ein ganz normales, aufgewecktes Kind sei.

Die Pädagogin lässt Frau Özal schließlich ihren Willen, will aber einen Bericht über Deniz an die zuständige Grundschule schicken. „Wir finden das unerhört“, empört sich Seygi Senol. Doch die Lehrerin sei hart geblieben. Immerhin willigte sie ein, den Bericht auch der Mutter zu geben.

Unabhängig von den schulischen Institutionen hat Frau Özal sich für ihren Sohn ein eigenes Förderprogramm überlegt. Er wird den Kindergarten wechseln. In dem neuen werde mehr auf das Deutschlernen geachtet, glaubt sie. Außerdem spielt jetzt dreimal in der Woche ein älteres Kind mit ihm, das nur Deutsch spricht. Eine Bekannte aus dem Nähkurs hat sie zudem beruhigt. Ihr Kind habe vor der Schule auch kein Wort Deutsch gesprochen, es aber in der Schule nach nur zwei Monaten gekonnt.

*Name verändert