: Nelken und Chopin-Musik
Zehntausende trauern um die ermordeten Arbeiterführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Nur zur Friedensdemo vom Frankfurter Tor aus kommen weitaus weniger als im vergangenen Jahr
von AGNES CIUPERCA
Minütlich drängen hunderte von Menschen den mit Pflastersteinen ausgelegten Aufgang zur Gedenkstätte der Sozialisten hoch. Geduldig halten sie die roten Nelken in der Hand, trotz Minusgrade, für Rosa und Karl. Aus den Lautsprechern, die am Wegrand zur Gedenkstätte in Friedrichsfelde aufgestellt sind, tönt traurige Musik, vorzugsweise Chopin, und begleitet den Zug bis an den Rand der Anlage, aus der ein rostfarbener Porphyrstein ragt, versehen mit der Inschrift „Die Toten mahnen uns“.
Noch bevor der Ansturm auf die Gräber richtig losgeht, platzieren sich Mitglieder der Marxistisch-Leninistischen-Partei Deutschlands (MLPD) und halten ihre Parolen hoch: „Die Alternative ist der echte Sozialismus“. Für die anwesenden Kameraleute die Gelegenheit, den ersten Sonntagsprotest einzufangen, bevor prominente PDS-Politiker zur alljährlichen Kranzniederlegung die Aufmerksamkeit der Medien für sich allein beanspruchen. Wie jedes Jahr.
Wie jedes Jahr setzt sich fast zur gleichen Zeit auch der Demonstrationszug vom Frankfurter Tor Richtung Friedrichsfelde in Bewegung. Ein Bündnis linker Parteien, Gruppen und Einzelpersonen hat zum Protest aufgerufen. Sie sprechen von bis zu 15.000 Protestierenden aus ganz Deutschland, die Polizei zählt 5.000, weitaus weniger als im letzten Jahr. Sie haben Transparente dabei, Sprechchöre gegen einen drohenden Krieg im Irak ertönen. „Kein Blut für Öl!“ und „Luxemburg, Liebknecht, Lenin. Niemand ist vergessen. Aufstehen und Widersetzen!“.
Auf dem Friedhof sind zu der Zeit wie jedes Jahr vor allem altgediente PDS-Genossen anzutreffen. „Seit 1954 bin ich hier, bei jedem Wetter und früher auch mit Kinderwagen“, sagt Ingeborg Eckert und fügt gleich hinzu: „Es hat uns nie einer dazu gezwungen.“ Ostalgie pur. Aber nicht nur die Erinnerungen sind verklärt, auch die Mode ist noch aus DDR-Zeiten. Das immer gleiche Pelzmützenmodell erhebt sich aus dem Gedenkzug.
„Sinnlich weine ich der alten Zeit schon nach. Da war die Gemeinschaft doch besser“, sagt Helga Struck, die zusammen mit ihrem Mann gerade den Rundgang um die Sozialistengräber standesgemäß absolviert hat. Denn die zwei Mitbegründer der Kommunistischen Partei (KPD), Luxemburg und Liebknecht, sind nicht die einzigen schillernden Persönlichkeiten. Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl leisten ihnen Gesellschaft. Deshalb haben die meisten Pilger auch mehr als zwei Nelken dabei. „Eine bekommt der Wilhelm, die zweite ist für Rosa, dann habe ich noch eine für Karl und die vierte Nelke bekommt der frühere Genosse Walter Eberlein“, sagt Regina Töpfer, die seit über 40 Jahren auf den Friedhof kommt. Aus Tradition und Gewohnheit. Die meisten hier sind über 50 oder 60 Jahre alt und selbst ein nostalgisches Überbleibsel der DDR.
„Der Sozialismus ist das Richtige. So schlimm sah die Welt noch nie aus“, sinniert Ingeborg Eckert. Und schmettert gleich eine Parole hinterher: „Geld regiert die Welt. Das wird sich nie ändern.“ Politische Resignation ist symptomatisch für die meisten Anhänger der Sozialistenführer Rosa und Karl. Und trotzdem schließen sie sich jedes Jahr dem Gedenken an. „Wir müssen gegen den Irakkrieg protestieren“, sagt Martina Jahn. „Wir kommen immer noch in der Hoffnung hierher, dass sich was ändert.“
Für die PDS-Oberen ist es hingegen eine Pflichtveranstaltung. Mit 15 Minuten Verspätung, um 9.30 Uhr, kommen PDS-Chefin Gabriele Zimmer, Bundestagsabgeordnete Petra Pau und Gesine Lötzsch in Begleitung von PDS-Senatoren Harald Wolf und Heidi Knake-Werner am Grab von Luxemburg und Liebknecht an. Umzingelt von Journalisten, legen sie drei aus Nelken geflochtene Kränze nieder. Bis zum Nachmittag haben es ihnen rund 80.000 Anhänger von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nachgetan.