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Archiv-Artikel

Lieber liegen lassen

Zwanzig Länder, dreißig Heimniederlagen und vierzig Vollregenbogen, dazu ein bunter Strauß mehr oder weniger gelungener Kopulationen und warmer Mahlzeiten: Das reicht. Jetzt dürfen mal die anderen ran. Eine Geschichte

Momentan habe ich morgens oft einfach keine Lust mehr aufzustehen. Das ist nicht untypisch für diese Jahreszeit. Für immer liegen bleiben, denke ich mir, wenn der Tod so aussieht, dass man für immer im Bett liegt, sich vielleicht gerade noch ein paarmal umdreht, zehn hoch zehn Milliarden mal und noch viel öfter, halt die ganze Ewigkeit lang, wenn der Tod so aussieht, dann ist der Tod mein Freund. Absolut keinen Bock mehr aufzustehen.

Wozu denn auch, denke ich mir, es ist alles gesagt, alles getan, alles erlebt. Ich habe zwanzig verschiedene Länder gesehen, dreißig Heimniederlagen und vierzig Vollregenbogen. Dazu ein bunter Strauß mehr oder weniger gelungener Kopulationen und warmer Mahlzeiten.

Mehr ist nicht zu erwarten – was jetzt noch kommen kann, ist der zweite Aufguss, eine billige Coverversion oder bestenfalls ein Crossover aus ollen Kamellen. Ich liege hier und weiß mein Feld wohl bestellt. Sollen andere für mich ernten – ich bleibe hier liegen. Ich hätte schon vor einem Jahr nicht mehr aufstehen sollen. Reine Zeit- und Energieverschwendung. Wer aufsteht, macht Fehler. Das ist systemimmanent. Eine Verantwortung, mit der nicht jeder fertig wird. Ich schon gar nicht. Da bleibe ich lieber im Bett liegen. Wenn ich jetzt aufstehen würde, vor die Tür gehen und auf der Stelle ein Kind totfahren – das würde ich mir niemals verzeihen!

Mein ganzes Leben lang habe ich bloß geackert, 37 bin ich schon – jetzt dürfen mal die anderen ran. Ich habe keine Fragen mehr an das Leben. Hat das Leben vielleicht noch Fragen an mich: Leben? … Nicht – hab ich mir doch gedacht! Hätte mich auch wirklich schwer gewundert, wenn das große, ach so schlaue Leben Fragen an mich unbedeutenden kleinen Wicht gehabt hätte. Ich bin nicht relevant – noch ein Grund mehr übrigens, liegen zu bleiben. Wenn ich nicht gebraucht werde … Auch wenn es schon ein wenig schmerzt, zu merken, dass man nicht gebraucht wird – das kann ich rundheraus zugeben: 37 Jahre lang den Buckel krumm gemacht, um dann fallen gelassen zu werden wie eine heiße Kartoffel, auf den Müll geworfen wie ein Stück Dreck, achtlos hier allein im Bett liegen gelassen – das ist eine ganz bittere Erfahrung. Ein paar Tränen der Enttäuschung versickern im Kopfkissen. Diese Seite ist jetzt nass, ich drehe mich besser noch mal um.

Müde bin ich. Irgendwann kommt bei jedem mal der Punkt, an dem er nur noch unheimlich erschöpft ist. Bei mir ist er jetzt da. Es ist alles so sinnlos. Früher im Grunde auch schon – da habe ich mich noch täuschen lassen. Vom Leben. Das Leben ist unersättlich – gibst du ihm den kleinen Finger, nimmt es gleich den ganzen Arm. Der Tod ist dagegen voll gemütlich. Auch ehrlicher, irgendwie. Du musst nicht ständig das Gefühl haben, beschissen zu werden, so wie vom Leben: Passt man eine Sekunde nicht auf, ist im nächsten Moment schon wieder alles anders. Das schlaucht. Da muss man ja müde werden. Und irgendwann hat man dann halt keine Lust mehr aufzustehen. ULI HANNEMANN