: Die Einzigen, die ich kenne
Kleine Spurensuche nach den Charlatans, erst in der eigenen Erinnerung, dann im Postbahnhof in Berlin
Es war der Beginn einer wundervollen Tradition: Pünktlich zum allerersten Tag der deutschen Einheit flüchteten wir ins Ausland. Wir setzten uns in einen Flieger nach London, quartierten uns in einer Absteige am Rande der Stadt ein und erkundeten die Weiten der lang amtierenden Hauptstadt des Pops. Am Kensington Market und anderswo deckten wir uns mit T-Shirts („Cool as Fuck“) ein, besuchten Plattenläden, die hauptsächlich Bootleg-Kassetten feilboten, und kauften gar nicht so erschwingliche Schallplatten. Abends suchten wir einen Club auf und hofften auf gute Musik.
In der westdeutschen Provinz, aus der wir kamen, herrschte noch der New Wave in allen Folgeerscheinungen wie Gothic, EBM, Wave Rock; in Englands Hauptstadt lernten wir diese neue, wilde Tanzmusik kennen, die mal schlicht Rave, mal bezeichnender Indie Dance genannt wurde. Gitarrenmusik also, die vorzugsweise aus Manchester kam und einen etwas schluffigen Eindruck machte, durch Remixe und Hiphop-Einflüsse allerdings aufgepeppt wurde: Gitarrenmusik mit Groove, mit Beats, James-Brown-Samples, Hintergrundsängerinnen und langen Schleifen. Auch schien diese glückbringende Musik irgendwas mit weichen und anderen Drogen zu tun zu haben: Unsere Neugierde war geweckt.
In dem Club, in dem wir schließlich landeten, ging es sehr englisch zu. Es wurde pünktlich losgetanzt und noch pünktlicher gingen die Lichter an. Um zwei Uhr war Ende. Als letztes Stück, sozusagen als Höhepunkt des Tanzabends, lief „The Only One I Know“ von den Charlatans. Der neuste Feger der Abteilung.
Ja, das war damals. Mittlerweile tingeln die Charlatans aus Manchester schon seit Jahren durch die Clubs, haben ihren Sound mehr und mehr Richtung Stadion gedreht, wurden reziprok dazu erstaunlicherweise immer erfolgloser. In diesem Jahr haben die Charlatans mit „You Crossed My Path“ ihr bereits zwölftes (!) Album veröffentlicht. Am Montagabend gastierten sie in der kleinen Halle des Postbahnhofs vor mehr oder minder verstreuten Leuten; die große Aufregung herrscht schon lange nicht mehr um die Band. Sänger Tim Burgess aber sieht aus der Entfernung immer noch recht jugendlich aus, er trägt sogar den gleichen Pottschnitt wie damals.
Am Rest der Band hat der Zahn der Zeit ordentlich herumgenagt. Drummer Jon Brookes und Bassist Martin Blunt sind seit Anbeginn an dabei, der legendäre Organist Rob Collins verunglückte 1996 tödlich, ihn hat Tony Rogers mehr oder minder ersetzen können, Gitarrist Mark Collins spielt seit 1991 mit. Es ist eine bis auf Burgess reichlich versoffen aussehende Band, die aber grundsolide Handarbeit leistet.
Womit fast alles gesagt wäre: Die Charlatans haben nach knapp 20 Jahren noch immer ihre Momente, so weist „You Crossed My Path“ mit „Oh Vanity“ eine wirklich ordentliche Single auf. Aufregung und Relevanz haben sich seit dem unterschätzten Zweitwerk „Between 10th & 11th“ von 1992 aber gelegt.
Doch der lässige Groove ist immer da, und der satte Orgelton beherrscht die Stücke. Manchmal ist es, als ob sie einfach zu viel Rolling Stones (samt Disko-Phase) gehört hätten; manchmal ist der Versuch, Dinge wie Samples oder 4/4-Beats in die Musik zu betten, zu durchschaubar. Aber Burgess gibt den gut gelaunten Hampelmann, trinkt Red Bull und macht Gesten, die fehlorientierte Zungen vielleicht als „weibisch“, gut informierte jedoch als „ironisch ekstatisch“ bezeichnen könnten.
Das beim Publikum durchaus Begeisterung auslösende Konzert hatte Höhen und Tiefen, und natürlich gehörten „The Only One I Know“ und „Weirdo“ zu den absoluten Höhen. Das sind Nummern, auf die ich noch 30 Jahre später tanzen könnte. Der Rest ist ordentliches Georgel mit gutem Gesang. RENÉ HAMANN