: Dem Vergessen entwinden
Von der Trauer über die Vergänglichkeit und den Versuch, Leben schreibend festzuhalten: Die amerikanische Autorin Siri Hustvedt liest im Literaturzentrum aus ihrem Roman „Was ich liebte“
von LIV HEIDBÜCHEL
Die Autobiographie eines Erblindenden ist voll von Erinnerungen an das, was er sah. Doch sicherlich ist nicht alles, was er sah, auch das, was er liebte. Was ich liebte lautet dennoch der Titel von Siri Hustvedts jüngstem Roman, aus dem die Autorin heute im Literaturzentrum lesen wird. Ich-Erzähler ist Leo Hertzberg, Sohn jüdischer Auswanderer aus Berlin und Kunsthistoriker in Soho, New York. In Leos Autobiographie geht es um alle wichtigen Episoden, an die er sich erinnern kann und die sich im Nachhinein mit anderen Geschichten zu einem Leben verdichten.
Auslöser der Autobiographie sind fünf Briefe von Violet an Bill, geschrieben vor über zwanzig Jahren. Sie wecken Leos Erinnerung an den Beginn seiner Freundschaft mit dem Maler Bill. Die tiefe Verbundenheit der beiden entsteht über ein Bild, das Bill Selbstporträt getauft hat: Eine üppige, liegende Frau im Zentrum, im Hintergrund eine schemenhafte Frau auf dem Weg hinaus aus dem Bild und ein irritierender Schatten. Er fällt auf die Liegende, doch bleibt uneindeutig, wer ihn wirft: Der Maler oder der Betrachter? Jedenfalls kauft Leo dieses Bild und kommt während des Schreibens und Erinnerns immer wieder darauf zurück. Die Konstellationen im Bild werden so zur Beschreibungshilfe für die Konstellationen in Leos Leben.
Was ich liebte ist vor allem ein Beziehungs- und Familienroman: Da sind Leo und seine Frau Erica, Leos bald engster Freund Bill und seine Frau Lucille, allesamt auf ihre Weise künstlerisch tätig. Die Paare ziehen in zwei benachbarte Lofts und bekommen zeitgleich Söhne. Dann taucht das liegende Modell wieder auf: Violet. In allem der krasse Gegensatz zu der spröden Lucille, wirbt sie in fünf Briefen erfolgreich um Bill. Doch wie schon auf Bills Bild ist die Frau im Hintergrund zwar auf dem Weg aus dem Raum. Tatsächlich verschwinden wird sie jedoch nie. Auch aus Leos Leben verflüchtigen sich die Menschen, die ihm etwas bedeuteten. So ist das mit Autobiographien: Alles gehört bereits der Vergangenheit an. Das Erzählte ist immer ein Abgesang, ein Aufsummieren der erlittenen Verluste, ein Versuch, gegen die Vergänglichkeit anzuschreiben.
Hustvedt lässt Leo in ihrem 480 Seiten starken Roman in einem wunderschönen, melancholisch stimmenden Ton erzählen, der manchmal pathetisch ist, meist jedoch nüchtern und analytisch angesichts der Unabänderlichkeit des Geschehenen. Die Autorin legt immer wieder einen trügerischen Erzählton an den Tag, der die guten, heilen Tage heraufbeschwört. Umso härter und ohne Vorwarnung schlägt sie dann schon auf der nächsten Seite zu. Immer wachsamer liest man diesen Roman, in einer Mischung aus Angst vor dem Unerwarteten und gleichzeitig der Neugierde darauf. Je näher der Roman seinem Ende rückt – und damit dem unwiderruflichen Abschied aus Leos Leben – desto mehr legt er an Tempo zu.
Was ich liebte ist aber auch ein Roman über Kunst. Das Künstlermilieu, in dem Hustvedt ihren Roman angelegt hat, prägt alles, was gesagt und beschrieben wird. Bis auf Bills immer stärker abstumpfenden Sohn versuchen alle Protagonisten etwas festzuhalten und zu (be-)greifen, ob in Bildern oder in Worten.
Zu Beginn des Romans erscheint Hustvedt der Intellektuellenzirkel mit seinen Bonmots eine Spur zu angelegt. Ihr Kunstdozent Leo verlässt jedoch bald den bildungsbeflissenen Ausschlussdiskurs und widmet sich als scharfer Beobachter auf griffige Weise der Kunstkritik. Dass seine Beobachtungsgabe endlich ist, stimmt traurig. Genauso, dass sein Leben bis heute irgendwann erzählt ist. Doch am Ende wartet Leo hoffnungsvoll auf einen Freund, der ihm vorlesen wird. Mit Glück wartet Leo auch heute abend.
Siri Hustvedt: Was ich liebte, Rowohlt Verlag, 2003, 477 S., 22,90 EuroLesung: heute, 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38