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Archiv-Artikel

Sprachreise ins jiddische Stedtl

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln oder „aus akademischem Interesse“ lernen Menschen aus aller Welt im einstigen Wilna Jiddisch

VON ROBERT B. FISHMAN

Vilnius, Litauen. Sie kommen aus Kanada, den USA, aus Argentinien, Israel, aus Hamburg oder aus der Nachbarschaft. Im litauischen Vilnius, dem einstigen Wilna, lernen sie am Rande des ehemaligen jüdischen Ghettos eine sterbend geglaubte Sprache: Jiddisch.

In rabbinischem Singsang rezitiert Dov-Ber Kerler alte Maises (Geschichten) auf Jiddisch aus einer untergegangenen Welt: den Stedtl Osteuropas. Vierzehn Schüler aus sechs Ländern saugen jedes seiner in den langen Rauschebart genuschelten Worte auf, als seien sie ihnen heilig. Nur selten unterbricht der Dozent seinen Monolog, um eine Frage zu stellen. Die Antworten kommen prompt, wenn auch mit starkem amerikanischen, französischem oder spanischem Akzent. Viele schreiben mit, die meisten in hebräischen Buchstaben. Hier sitzen die Fortgeschrittenen – Level 4 der Yiddish Summer School an der Universität von Vilnius, der Hauptstadt Litauens, Kulturhauptstadt Europas 2009 und einstigen Metropole der jüdischen Aufklärung.

„Ech hob gemeint, ech weiß, aber jetzt weiß ich, dass ech gur nischt weiß“, erzählt eine Kursteilnehmerin, die nach sieben Jahren in Israel nun wieder in ihrer Heimatstadt Vilnius lebt. Am Yiddish Institute lernt die alte Dame ihre Mameloschn, ihre Muttersprache. Als Kind habe sie nur Jiddisch gesprochen. Die damalige Amtssprache Russisch lernte sie erst in der Schule. „Wenn die Eltern hobn gestorbn, hob ich aufgehert zi rejdn Jiddisch.“

„Viele Überlebende des Holocaust haben versucht ihre Herkunft zu verdrängen“, weiß die stellvertretende Direktorin des Instituts Ruta Puisyte. Sie wollten sich möglichst schnell ihrer neuen Umgebung anpassen. Jetzt sind es ihre Kinder und Enkel, die mehr über die Geschichte ihrer Familien erfahren möchten, Fragen stellen und die Sprache ihrer Vorfahren lernen.

Auch Barbara aus Virginia lernt in Vilnius ihre Muttersprache. Rechtzeitig vor dem Holocaust sind ihre Eltern nach Amerika ausgewandert, wo sie 1939 zur Welt kam. Zu Hause hat sie mit ihren Eltern Jiddisch gesprochen. Wie viele sucht sie im Jiddischkurs auch nach ihren jüdisch-europäischen Wurzeln.

Diese liegen gleich hinter den meterdicken Mauern der Vilniuser Universität. Die um 13 Innenhöfe vor fast 500 Jahren im Renaissancestil erbaute Hochschule grenzt an das einstige jüdische Ghetto. Tausende von Menschen haben die Nazis in der inzwischen zum Weltkulturerbe zählenden Vilniuser Altstadt zusammengepfercht. Seit dem deutschen Einmarsch 1941 zog sich der Ring der Vernichtung immer enger um das einst blühende jüdische Viertel. Am 23. September 1943 ließen die Mörder das Ghetto schließlich „liquidieren“. Wer bis dahin nicht geflohen war, wurde von SS-Männern und ihren litauischen Helfern aus der Stadt getrieben, unterwegs erschossen oder in einem der Vernichtungslagern vergast.

Der heute 86-jährigen Fania Brancovskaja gelang die Flucht in letzter Minute. Sie schloss sich den Partisanen an, die in den Wäldern mit sowjetischer Unterstützung gegen den braunen Terror kämpften. In fließendem Jiddisch erzählt sie ihre Geschichte. Nach dem Krieg kam sie zurück. Von den einst etwa 200.000 Litauer Juden, den Litwern, hat nicht einmal jeder Zwanzigste den Holocaust überlebt.

Fanja, die in Vilnius geblieben ist, organisiert die Bibliothek des Jiddisch-Instituts und führt die Kursteilnehmer auf den Spuren des einst blühenden jüdischen Lebens durch die Stadt. Seit dem 18. Jahrhundert galt das damalige Wilna mit seinen zahlreichen prächtigen Synagogen und Religionsschulen als Jerusalem des Nordens. Als die Deutschen 1941 einmarschierten, waren mehr als ein Drittel der Einwohner Juden. Viele berühmte jüdische Gelehrte wie der „Gaon von Wilna“ hatten die Stadt über zwei Jahrhunderte geprägt. Entstanden war die jüdische Gemeinde im späten Mittelalter, als der Großfürst des damals mächtigen polnisch-litauischen Großreichs verfolgten Juden vor allem aus Deutschland die Grenzen öffnete. Die meisten heute angeblich typisch jüdischen Namen wie Goldstein oder Rosental brachten die Flüchtlinge damals aus Deutschland mit. Auch ihre Sprache hat sich in Polen, Litauen, der Ukraine und Russland erhalten: eine Art Mittelhochdeutsch mit zahlreichen hebräischen Wörtern. Außerdem hatten Juden, die vor der Inquisition aus Spanien geflohen waren, sehr viele altspanische Worte mitgebracht. In Osteuropa kamen russische und polnische Begriffe dazu.

Als Germanistin beschäftigt sich Annika wissenschaftlich mit der Sprache. In Hamburg studiert die mit 25 Jahren jüngste Jiddischschülerin Germanistik. Als Deutsche ohne jüdische Wurzeln ist sie mit einem unguten Gefühl angereist. „Ich habe mich schon gefragt, wie die anderen auf mich reagieren würden“, erzählt sie und war dann „sehr erleichtert, dass sie ganz offen und herzlich aufgenommen wurde“. Als Schülerin hatte sich Annika in einem Unterrichtsprojekt mit dem jüdischen Friedhof ihrer Heimatstadt und der Geschichte des Holocaust beschäftigt. Am authentischen Ort in Vilnius lernt sie nun Jiddisch viel intensiver, als in Hamburg, wo sie an der Universität ebenfalls Jiddischkurse belegt hat.

Jahrzehnte lang war der Holocaust in Litauen wie in der ganzen Sowjetunion nur ein Randthema. Auch seit der Unabhängigkeit 1990 stellt sich das offizielle Litauen nur zögernd seiner Mitverantwortung für den Massenmord an den Juden. Schon in den Zwanzigerjahren habe es im unabhängigen Litauen Pogrome gegen Juden gegeben. Natürlich hätten ihre Landsleute „Juden an die Deutschen ausgeliefert“, sagt Ruta Puisyte, die Leiterin des Yiddish Institute. „Litauer haben die Dreckarbeit gemacht.“

Das in ganz Vilnius ausgeschilderte „Genozidmuseum“ in bester Innenstadtlage präsentiert detailreich die Verbrechen der Sowjets im Lande und widmet sich ausführlich dem Schicksal der vielen nach Sibirien deportierten Litauer. Anders als das internationale Völkerrecht definiert das litauische Gesetz die sowjetischen Deportationen als Völkermord.

Über die Nazibesatzung von 1941 bis 1944 und den Massenmord an den Juden im Lande erfahren die Museumsbesucher so gut wie nichts. Das kleine jüdische Holocaustmuseum fristet ein Schattendasein in einem Park am Rande der Innenstadt. Wer es sehen will, muss lange danach suchen. Fotos und Dokumente zeigen dort, wie zum Beispiel in Kaunas christliche Litauer ihre jüdischen Nachbarn erschlugen, nur weil sie Juden waren. Ein deutscher SS-Offizier meldet in die Heimat, dass es „nach anfänglichen Schwierigkeiten“ gut gelungen sei, Pogrome gegen die Juden anzuheizen. Ohne die zahlreichen einheimischen Helfer hätten die Deutschen oft gar nicht feststellen können, wer Jude war.

Vilnius Yiddish Institute, Universiteto 7, Vilnius 01513, Litauen, Tel.: (00 37 05) 2 68 71 87, www.judaicvilnius.com