Tippkick: Der Kick kommt beim Tipp

Auch hier geht es um Sieg oder Niederlage: Wilder Handfußball in den Vorbereitungsrunden zur Stadtmeisterschaft Anfang Februar

„Tippkicker sind verkrachte Existenzen, die es im Fußball zu nichts bringen“

Sein Fuß zuckt, er täuscht an, dribbelt vor dem Ball hin und her, den gegnerischen Torwart fest im Blick. Wird er den Ball nach rechts spielen oder über die linke Flanke? Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Peter Gehrung holt aus und drischt mit der Handfläche auf den kleinen roten Knopf ein, der Zinkfuß schnalzt hoch und lupft den schwarzweißen Eckball, zackbumm, ins Netz. Sechs zu eins im Aufstiegskampf der Berliner Tipp-Kicker. Hier ist jeder auf sich gestellt, denn die Spieler, nicht die Vereine bilden die Ligen.

Endlich: Der Wecker klingelt. Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Der Deutsche Meister a. D. hat gewonnen! Gehrung wischt sich grinsend den Schweiß von der Stirn. Er hat es mal wieder geschafft, trotz dreijähriger Pause. Immer noch ein klarer Trainingsvorsprung gegenüber dem Verlierer. Michael Lorenz, seines Zeichens Friseurmeister im Ruhestand, hat seit gut dreißig Jahren keinen Finger gerührt. Seine herbe Niederlage hat er wohl der ausgefeilten Taktik des Exmeisters zu verdanken. „Tipp-Kick ist ein echtes Konzentrationsspiel“, findet Gehrung. „Die zwei mal fünf Minuten Spielzeit reichen, um die Gegner zu beobachten. Spielen sie lieber langsam oder schnell? Ich mache dann natürlich das Gegenteil. Das macht sie garantiert verrückt.“ Er muss weiter, der nächste Sieg wartet.

Von fast allen der fünf Berliner Tipp-Kick-Vereine sind Spieler vertreten. Die vier Fußballplätze füllen den Nebenraum des Zehlendorfer Jugendhauses aus, auch wenn sie nur ein Zehntel so groß sind wie die echten. Für die Mannschaften ist kaum Platz, sie treten sich gegenseitig auf die Kickers. Einen Schiri gibt es ausnahmsweise nicht. „Müssen se sich eben alleene bescheißen“, meint einer lakonisch. Jedes Team besteht aus mindestens drei Mann: einem Spieler und einem Torwart auf dem Grün und natürlich dem, der die Hand auflegt, dem Spielführer. Die Reservemänner liegen gemütlich an der Bande.

Wie beim richtigen Fußball: alles ausgefeilte Persönlichkeiten. Für jeden Schuss gibt es den optimalen Mann. Kurzfüße für die scharfen Bretter, Tiefbeine für die kurzen, Beine mit hohem Anschlag für die langen Bälle. Nur mit dem Rundfuß, mit dem spielt keiner mehr, der etwas auf sich hält. Allein der Gedanke! Die Experten schütteln mitleidig den Kopf. Einen Dreieckfuß gab es auch mal, den hatte sich ein Fanatiker für den 16-Meter-Raum gebastelt. Das ist das Gute am Tipp-Kick: Jeder feilt sich seinen eigenen Torschützenkönig, in Millimeterarbeit. „Ein Schuricke-Fuß ist teilweise für 200 Mark gehandelt worden“, erzählt Blacky Schwarz.

Er ist Gründer der „Spvgg Halbau“, dem ältesten aktiven Tipp-Kick Verein in Deutschland. Er hat den Aufstieg und Fall vieler Clubs erlebt und ist so was wie der Egidius Braun der Berliner Tippkicker. Nur bei weitem nicht so tatterig. „Mein erstes Set habe ich von meiner Mutter bekommen, für zehn Mark fünfzig, mit einer mächtig knarrenden Tipp-Kick-Uhr. Das war 1954, da war ich acht“, plaudert er. „Die WM hat damals einen richtigen Boom ausgelöst. Es gab sogar einen Toni Turek in klein.“

Blacky Schwarz spielt zwar heute nicht mit, seine blecherne Sarottidose hat er trotzdem dabei. Sie ist die Reservebank für die Aufstiegsrunde. Darin lagern: ganze Herrenmannschaften und 1a-Torhüter, von denen Völler nur träumen kann; klitzekleine Metallstifte für Reparaturen in der Halbzeit; ein Vorrat an Pflastern, denn „da fließt manchmal richtig Blut“, wie Schwarz versichert. Dazu ein Satz Feilen und, nicht zu vergessen, eine Armada an zinkenen Fußballerwaden, eingetütet nach Sorten. Sie entscheiden über die eine beckenbauersche Möglichkeit: „Ja gut, Sieg, Unentschieden oder Niederlage.“

Die Torchancen, die den Kickern ins Schlenkerbein gefeilt wurden, sind allerdings nicht spielentscheidend. Um sie auch zu verwandeln, müssen trainierte Finger mit den Figuren über den Filz ackern. Die Cracks haben eine Trefferquote von 99 Prozent, schätzt Schwarz. Mit dem Alter hat das nichts zu tun. Dario ist dreizehn und steigt problemlos in die nächste Liga auf. Der Friseurmeister und Ruheständler Lorenz wird am Ende Vorletzter. Der Newcomer ist Christian Kitter, er kickt erst seit November. „Ein Naturtalent“, meint der alte Hase Schwarz. „Ach was“, Medienpädagoge Kitter, Anfang dreißig, winkt ab. „Ich lerne hier noch. Das Spiel habe ich geschenkt bekommen, weil ich bei der WM so gut getippt habe. Und als ich dann wissen wollte, wie die Profis spielen, bin ich im Verein gelandet.“

Wer zu den Profis gehört und wer noch probeweise bolzt, lässt sich trotzdem erkennen. Das Indiz ist die individuelle Ersatzbank in Dosen, Dr. Müller-Wohlfahrt inklusive. Lorenz, mit ondulierter Peter-Sellers-Tolle, hat für sein erstes Comeback improvisiert: Torhüter und Stürmer ruhen in einer geblümten Pappschachtel, offensichtlich ein Überbleibsel vom letzten Geburtstag. Der Deutsche Tipp-Kick-Meister von 1990 ist ohne Ambitionen, aber mit seiner abgegriffenen Spanschachtel zum Aufstiegsspiel der Berliner Tipp-Kicker gekommen. Es ist wohl die einzige Dose im Raum, auf der der Begriff „Tischfußball“ zu entdecken ist: ein 70er-Jahre-Aufkleber, dekoriert mit pausbäckigen Jungs.

Drinnen hat alles seine Nische im Schaumstoff, seit Jahrzehnten unverändert. Eine ausrangierte Stoppuhr mit Metallarmband und Digitalanzeige lässt auf die frühen Achtziger schließen.

Obwohl Tipp-Kicker nicht in Dreierketten über den Platz flanken, verlangt die Randsportart den Spielern einiges ab. Die Rücken wie beim Billard tief über den niedrigen Tisch geklappt, trieft vielen schon nach einem Match der Schweiß aus den Nackenhaaren. „Ein Sport, der ziemlich auf den Rücken geht“, ächzt einer und richtet sich mühsam auf. Als Ausgleich wäre ein Besuch auf dem Bolzplatz empfehlenswert, dient doch der „richtige“ Fußball den Modellbaukickern ständig als Referenz. „Unser Bayern München sind die Lübecker“, erklärt Christian Lorenzen, der Vorsitzende von Celtic Berlin. „Und Michael Ballack ist Norman Koch. Der ist technisch sehr versiert, seinen Zenit hat er inzwischen überschritten.“ Sowieso seien Tippkicker verkrachte Existenzen, die es im richtigen Fußball zu nichts gebracht hätten, wirft Blacky Schwarz noch ein. Aber mental durchs Alphabet holzen, das können sie so gut wie die Großen. Tippkicker sind wortkarge Menschen, wenn sie was sagen, dann Sätze wie: „Ja gut, letztendlich wird das Spiel im Kopf entschieden.“ ANNE HAEMING