Von Rennmäusen und Menschen

Zeugnisse sind sinnlos – sagen Hirnphysiologen. Das ist eine von vielen erstaunlichen Erkenntnissen, die der Bremer Gehirnforscher Gerhard Roth, Kollegen und Bildungspolitiker im Hanse-Wissenschaftskolleg diskutierten

Wie funktioniert Lernen im Gehirn? Mit ganz viel Gefühl, Glücksgefühl.„Das Gehirn hat einen Mechanismus erfunden, um die Details loszuwerden.“

Gleich drei Dinge wollte Bremens Bildungssenator Willi Lemke am Samstag wissen: In einer Schulklasse ganz unterschiedlich begabte Kinder zusammen zu bringen – „ist das machbar? Ist das sinnvoll?“ Zweitens: Was sagen die Erkenntnisse der Gehirnforscher über den Sinn einer Ganztagsschule? Und drittens: Wenn Langläufer wie er sonntags um 11 Uhr dieses „unglaubliche Glücksgefühl“ haben – „wir sind geradezu laufsüchtig“ – passiert dann bei dem Langläufer dasselbe wie im Gehirn der Springmaus, wenn sie eine überlebenswichtige Reaktion zeigt?

Henning Scheich, Professor aus Magdeburg, war einer der Referenten dieser Tagung im Hanse-Wissenschaftskolleg, die Bildungspolitiker und Biologen zusammenbrachte, und er konnte Lemkes Langlauf-Glück verstehen: In beiden Fällen, erklärte er, sei eine enorme Dopamin-Ausschüttung messbar. Die anderen Fragen führten auf das Thema: Wie funktioniert Lernen im Gehirn? Mit ganz viel Gefühl, Glücksgefühl nämlich, dazu höchst individuell, bei jedem Kind anders, so der Neurobiologe. Seine Schlussfolgerung: Es ist die Bildungsbürokratie, die Lernen behindert. „Lehrpläne sind keine vernünftigen Konzepte“, um individuelles Lerntempo zu steuern, sagt Scheich. Dass 30 Kinder im gleichen Rhythmus etwas lernen, sei gehirnphysiologisch undenkbar.

Auch zu der Frage nach der Ganztagsschule konnte der Biologe etwas sagen: Die Chance, dass eine Erkenntnis ins Langzeitgedächtnis wandert, steigt ungemein, wenn das Thema im Verlaufe von 24 Stunden wiederholt wird. Das hängt an der Biochemie des Langzeitgedächtnisses. Ein Fach eine Stunde pro Woche zu unterrichten – laut Scheich großer pädagogischer Unsinn. Auf Hausaufgaben verzichten – lernphysiologisch eine Sünde. Im Gegenteil: Hausaufgaben, die am selben Nachmittag zu machen sind, helfen besonders gut beim Lernen. Die Ganztagsschule als Betreuungs-Angebot, vormittags Unterricht im Stundentakt, nachmittags Sport – bringt nichts. Vormittags eine Stunde Mathe und nachmittags eine Stunde Mathe-Tutorium – das sei besser als verbindliche Hausaufgaben, sagte Scheich.

Der Bremer Gehirnforscher Gerhard Roth und die beiden Magdeburger Biologen Katharina Braun und Henning Scheich waren sich einig: Die Pädagogik muss von der Gehirnphysiologie lernen.

Die Weichen für die Aufnahme-Fähigkeit des Gehirns, das ist Thema der Forschungen von Katharina Braun, werden lange vor der Einschulung gestellt. „Wir haben ein Tier gesucht, das dem Menschen sehr ähnlich ist“, erklärte sie. So sei man auf die Strauchratte Octodon Degus gekommen. Die kommt mit halbwegs entwickelten Sinnen auf die Welt und lernt lange in familienähnlichen Zusammenhängen. Die erwachsenen Strauchratten sind weitgehend monogam, und die Väter beteiligen sich stark an der Fürsorge – ein weiteres Detail, in dem Octodon Degus dem Menschen voraus ist.

Brauns Experimente zeigen: Die emotionale Zuwendung in den ersten drei Lebenswochen entscheidet bei diesen Tierchen über die Entfaltung der biologischen Grundstrukturen des Gehirns. Allgemein gilt: Wird die Gehirnaktivität durch verminderte Anforderungen heruntergefahren, dann bremst das die Entwicklung der Nervenzellen. Und noch etwas: Es gibt „Zeitfenster“ des optimalen Lernens. Rattenkinder, die in den ersten Wochen „unterfordert“ waren, holen das später kaum nach.

Brauns Konsequenzen für die menschliche Spezies: Kleinkinder werden unterschätzt, unterfordert – das habe schlimme Folgen: „Die Lust am Lernen geht verloren.“ Denn nur erfahrene Lernerfolge führen im Gehirn zu dem Dopamin-Ausstoß, den der Bremer Wissenschaftssenator am Sonntag so liebt.

Brauns Kollege Scheich erklärt den Übergang vom Kurzzeit-Gedächtnis ins Langzeit-Gedächtnis. Für kurze Zeit kann man sinnlose Dinge speichern wie ein Computer, aber solche Dinge wandern selten ins Langzeitgedächtnis. Auf dem Weg ins Langzeitgedächtnis müssen chemische Signale in den Kern der Synapsen übertragen werden, Proteine werden codiert, um an Synapsen Umbauprozesse in Gang zu setzen – ein komplizierter Prozess, der Stunden und Tage dauert. Informationen, die große Überlebensbedeutung haben oder die in einem sinnvollen Kontext zu früher Erlerntem stehen, haben größere Chancen, zu Langzeit-Gedächtnisstrukturen zu werden. Positiv wirkt, wenn sich Prozesse verstärken. Wenn dagegen in zu kurzer Zeit zu viele verschiedene Kurzzeit-Lernelemente den Weg ins Langzeitgedächtnis antreten, kann es zu schädlichen Überlagerungen kommen.

Entscheidend für das Gehirn ist die Motivation, sich etwas merken zu wollen. Scheich hat an Rennmäusen – „sehr schlaue Tiere“ – das Lernen studiert. Und bei den Rennmäusen ist es so: Nimmt man ihnen die „schlechten Erfahrungen“ bei unintelligentem Verhalten, dann nimmt der Lerneffekt schnell ab. Die Mechanismen im Gehirn seien beim Menschen dieselben: „Lernen unter dem Druck von negativen Erfahrungen“ führt zu dauerhafteren Gedächtnisverankerungen, sagt der Biologe, und weiß: „Das widerspricht geltender pädagogischer Lehrmeinung.“

Was sollten die Schulpolitiker daraus lernen? „Man kann mit nichts Kinder mehr langweilen als mit Überfrachtungen durch Stoff“, sagt Scheich. Je mehr die Schule „ungeordnete Stoffsammlungen“ präsentiert, desto weniger bleibt hängen. „Das gefällt Gehirnen nicht. Das Gehirn hat einen intelligenten Mechanismus erfunden, um die Details loszuwerden.“ Gut behalten werden vor allem Informationen, die sich einordnen lassen. Also sei „exemplarisches Lernen“ angezeigt. Außerdem ist die zeitliche Strukturierung für die Wissensaufnahme entscheidend. Die gängige Stundenplan-Struktur behindere das Lernen geradezu.

Schließlich: Misserfolge müssen da sein, „nur Loben nutzt ab.“ Optimal ist eine hohe Anforderung – mit effektiver individueller pädagogischer Hilfe in dem Sinne: „Du kannst das schaffen.“ Und: „Die Rückkoppelung muss schnell erfolgen“, betont Scheich Die Zensuren am Ende eines Schuljahres seien für die Selbst-Belohnungsprozesse des Gehirns völlig ineffektiv.

Der Bremer Gehirnforscher Roth fasst zusammen: „Entscheidend ist die Lust am Lernen. Erfolg muss möglich sein. Aber es muss auch schwierig sein – das gibt dem Gehirn den Rausch.“ Kein Langzeitgedächtnis ohne Dopamin-Rausch. Und: Das Gehirn entwickelt sich besser, wenn es schon in der frühesten Kindheit gefordert und belohnt wird, lange vor unserer Einschulung. Biologin Braun: „Die Grundschullehrer beginnen dann schon mit den Reparaturaufgaben.“ Klaus Wolschner