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Archiv-Artikel

Führers Daumen

Vom äußerst fragwürdigen Gebrauch historisch belasteter Handzeichen: War das nun ein Hitlergruß – oder nicht?

Die erste richtig eisige Nacht des Jahres: „Ein Wetterchen wie zu Eisbärs Geburtstag“, staunte ich, als in der menschenleeren Nebenstraße plötzlich eine dunkel gekleidete Frau zwischen den parkenden Autos hervorschoss und den rechten Arm zackig nach oben riss. Ich hielt an, sie öffnete die Tür meines Taxis und kletterte auf den Rücksitz. Kurz darauf kam auch ihr Männchen herbeigetrottet und stieg ein – es konnte losgehen.

„Das sah ja eben aus wie ein Hitlergruß“, staunte ich. Die Frau tat entrüstet: Nein, das sei keiner gewesen. Also wirklich nicht. Das dürfe ich nicht denken, auf keinen Fall dürfe ich das denken! Ich schwieg taktisch klug, um zu beobachten, wie sie sich möglicherweise in immer tiefere Widersprüche verstricken würde. Also nein, also nein, ging es tatsächlich weiter, zeternd fast und dermaßen vehement darauf bestehend, dass es kein Hitlergruß gewesen sei, dass sie schon allein dadurch Verdacht erregen musste. Wäre es kein Hitlergruß gewesen, hätte sie ja ganz souverän über meine Bemerkung hinweggehen können.

Dabei hatte ich ja durchaus Verständnis dafür, dass sie sich schämte: Sie waren ein augenscheinlich wohlhabendes Paar und gerade Großbürger und Industrielle hatten ja, sofern nicht jüdischer Herkunft, von den Verbrechen der Nazis mit am meisten profitiert. Auf der anderen Seite, seien wir ehrlich, konnte man diese Schuld doch beim besten Willen weder kompensieren noch verdrängen, indem man ständig den rechten Arm hob! Sollte das jetzt eine typische Übersprungshandlung gewesen sein, oder, mich schauderte, handelte es sich tatsächlich um Nazis in buchstäblich neuem Gewande? Also nein, verzettelte sich die Dame immer mehr, „was wäre denn das gewesen, wenn Ihnen stattdessen beispielsweise eine Frau im Minirock gewinkt hätte und dabei den Daumen nach oben gehalten?“. Nicht ablenken, Puppe! “Also, was wäre das gewesen?“, fragte aufgebracht die Frau.

Ich wollte ihr doch nur einen Gefallen tun! Ich hatte gedacht, dass es sie vielleicht interessieren würde, wie sie in dem Moment ausgesehen hatte. „Was wäre das gewesen?“, beharrte sie, und ich beschloss, mein Schweigen zu brechen. „Erstens ist es draußen viel zu kalt für einen Minirock“, antwortete ich bedächtig, „und zweitens habe ich keine Ahnung, was das eine, um Gottes willen, mit dem anderen zu tun haben soll. Aber wenn Sie denn unbedingt einen Zusammenhang konstruieren wollen“, führte ich weiter aus, „dann hätte ich besagte Lady sicherlich für eine reiche Truse gehalten, die sich ohne Rücksicht auf Erfrierungen verkleidet hat, um unerkannt Symbole verfassungsfeindlicher Organisationen verwenden zu können, dabei jedoch sogar zu blöd für einen korrekten Hitlergruß ist.“

Die Antwort schien sie zufrieden zu stellen. Kurz darauf kamen wir an, und der Mann, der die ganze Zeit über nichts gesagt hatte, bezahlte. Obwohl er zum Abschied den Arm unten ließ, verriet auch er mir seine fragwürdige Gesinnung: Er gab kein Trinkgeld. ULI HANNEMANN