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Archiv-Artikel

Ein Mann mit langem Atem

„Wir machen Frieden mit unseren Feinden“

aus Haifa SUSANNE KNAUL

Amram Mitzna, Spitzenkandidat der Arbeitspartei bei den kommende Woche angesetzten Parlamentswahlen in Israel, hat es schwer. Er hat es schwer trotz des Korruptionsskandals beim rechten Konkurrenten, dem regierenden Likud, der Wasser auf den Mühlen des sozialistischen Wahlkampfs hatte sein müssen. Und er hat es schwer wegen seiner eigenen Entscheidung, „unter keinen Umständen“ einer Regierung unter Ariel Scharon, dem derzeitigen Premierminister, beizutreten. Der Beschluss wird als Fehlentscheidung gewertet in allen politischen Lagern, auch dem eigenen. Laut jüngsten Umfragen kommt die Partei kaum über 20 (von insgesamt 120) Mandate hinaus.

Dabei war sein Schritt nur konsequent, hatte er doch die parteiinterne Wahl gegen Benjamin Ben-Eliesar gewonnen, der für die große Koalition stand. „Scharon führte das Land in eine Katastrophe“, sagt Mitzna und resümiert in einem Satz die Sicherheitslage, den „Fast-Kollaps“ der Wirtschaft und die sozialen Folgen.

„Ich bin zum Chef der Arbeitspartei gewählt worden, um diese Regierung abzulösen.“ Mit diesen Worten tritt er nach seinem parteiinternen Sieg vor die Auslandspresse, freundlich und gleichzeitig unnahbar, dezent elegant in graues Tuch gekleidet, die Gesichtsbräune von einem ergrauenden Bart unterstrichen. Er habe ein Gelübde abgelegt, sich bis zum Frieden nicht mehr zu rasieren, besagt ein Gerücht. Falsch. Mitzna hatte sich während des Sechs-Tage-Krieges eine Splitterverletzung zugezogen. „Er wollte ganz einfach die Narbe verdecken“, berichtet ein langjähriger Freund.

Der sozialistische Anwärter auf das höchste Regierungsamt bietet den Wählern nach vielen Jahren wieder eine konkrete Alternative zum Likud. Von „neuer Hoffnung“ spricht Mitzna, plädiert für die Trennung zwischen den Völkern und von einem „sofortigen einseitigen Abzug aus dem Gaza-Streifen“. Verhandlungen sollten nicht an Vorbedingungen geknüpft sein. „Wir machen Frieden mit unseren Feinden“, antwortet er auf die Frage, ob auch Palästinenserchef Jassir Arafat ein möglicher Partner für ihn sei, „und die suchen wir uns nicht aus“. Mit den Worten des 1995 ermordeten Premierministers Jitzhak Rabin will er „Verhandlungen führen, als gäbe es keinen Terror, und den Terror bekämpfen, als gäbe es keine Verhandlungen“. Mitzna will einen großen Sprung nach vorn machen. Er kündigt die Auflösung von isolierten israelischen Siedlungen in Palästinensergebieten an, „auch wenn es keinen Fortschritt bei Verhandlungen gibt“. Und wenn alles nichts nützt und der Terror fortgesetzt wird? Dann „werden wir es ihnen zeigen“, lässt er sich doch einmal vor Parteigenossen hinreißen. Es ist ein untypischer Satz für den sonst so bedachten, selbstbeherrschten Kandidaten.

Dass der hoch dekorierte Brigadegeneral, der in zwei Kriegen mehrmals schwer verletzt wurde, nicht nur sanft mit den Palästinensern umgeht, das belegen allerdings seine Jahre als Kommandant des Zentralsektors zu Beginn der ersten Intifada, Ende der 80er-Jahre. Unter dem damaligen Verteidigungsminister Rabin, der den Aufstand auch durch das „Brechen von Armen und Beinen“ niederzuschlagen hoffte, befahl Mitzna Razzien, Häuserabrisse, Deportationen und militärisches Vorgehen gegen die jugendlichen Steinewerfer. Knapp zehn Jahre zuvor hatte er nicht unter dem seinerzeit amtierenden Verteidigungsminister Ariel Scharon dienen wollen, nachdem das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatilla bekannt geworden war. Er schrieb einen offenen Protestbrief an Premier Menachem Begin. Der rief ihn umgehend zu sich und bewegte ihn schließlich zu einer Rückkehr zu seiner im Libanon stationierten Brigade.

Als Mitzna 1993 endgültig seine Uniform ablegte, rief ihn Rabin, inzwischen Premierminister, nach Jerusalem. „Er hätte fast jeden Job haben können“, vermutet Chaim Kaminer, der Mitzna vor 25 Jahren kennen lernte, als beide jung verheiratet nebeneinander in dem Haifaer Vorort Kirjat Chaim wohnten. „Rami“, wie er seinen Freund nennt, habe sich für das Bürgermeisteramt der Stadt entschieden, um „unabhängig“ Politik machen zu können. Als Chef im Rathaus sei er „allein der Bevölkerung verpflichtet“. Und rund zehn Prozent dieser Bevölkerung sind Araber.

Mitzna wurde gewählt und gut vier Jahre später mit 65 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Die arabischen Wähler in der Stadt „gaben ihm weit über 90 Prozent“, schätzt Dr. Motti Pery, Direktor des arabisch-jüdischen Begegnungszentrums „Beith Hagefen“ in der Stadt. Jedes Jahr um die Weihnachtszeit veranstaltet das Zentrum das „Fest der Feste“. Bis 1993 war es ein jüdisch-christliches Festival. Mitzna, gerade einen Monat im Amt, sorgte dafür, dass nicht nur Weihnachten und das jüdische Lichterfest Chanukka gefeiert wird, sondern auch der muslimische Fastenmonat Ramadan.

Er investierte in den Wohnungsbau und in die Schulen der arabischen Wohnviertel. Doch ausschlaggebend für die Sympathie, die er unter den Arabern genießt, ist vermutlich vor allem sein Verhalten zu Beginn der zweiten Intifada, Anfang Oktober 2000. Der erneute Volksaufstand und das scharfe israelische Vorgehen gegen die palästinensischen Demonstranten im Westjordanland führte zu heftigen arabischen Solidaritätskundgebungen in Galiläa. Dabei erschoss die Polizei zwölf Israelis. In Haifa stellte sich der Bürgermeister schon bei der ersten Demonstration zwischen die aufgebrachte Bevölkerung, und die Polizei und verhinderte damit Eskalationen. „Er schütze die arabischen Demonstranten mit seinem eigenen Körper“, schrieb die al-Sinara, ein Magazin in arabischer Sprache.

Bürgernah für die gesamte Bevölkerung wollte er sein. „Scheschi – ischi“ (Freitags – persönlich) heißt die Radiosendung, in der Mitzna bis zur Parteivorstandswahl einmal wöchentlich je zwei Stunden den Bürgern Frage und Antwort stand. „Man hatte den Eindruck, dass er jede Ecke, jeden Baum in der Stadt kennt. Was er einmal im Kopf hat, vergisst er nicht mehr“, meint Kaminer. Dabei habe er immer nur Lösungen für die Probleme versprochen, die machbar waren. „Was Mitzna sagt, wird auch gemacht.“ Tatsächlich genießt er den Ruf des unbedingt zuverlässigen, aufrechten, integren und zielgerichteten Mannes. Werte, die er „ohne Zweifel aus seinem Elternhaus mitgebracht hat“, glaubt Kaminer. Vater und Mutter Mitznas stammen aus Deutschland.

Dass ihm sein guter Ruf aus Haifa schon jetzt den Weg ins höchste Regierungsamt ebnet, scheint Mitzna, der auf Wahlkampfveranstaltungen unverändert Selbstbewusstsein demonstriert, selbst nicht mehr wirklich zu glauben. „Ich bin ein Marathonläufer, kein Sprinter“, sagt er vor deutschen Journalisten in seinem Büro. Im Moment sieht es so aus, dass auch seine Partei die notwendige Geduld aufbringt, um ihm eine zweite Chance einzuräumen.