: Flämische Alltagsmalerei
Der Band „Der Schlafwandler“ versammelt drei kürzere Erzählungen des belgischen Autors Hugo Claus
In Deutschland kennt man den belgischen Autor Hugo Claus wegen eines Romans. „Der Kummer von Flandern“ war in den 80er-Jahren der hauptsächliche Auslöser dafür, die Aufmerksamkeit wieder auf die niederländischsprachige Literatur zu richten. In dem Roman geht es um Flanderns scheinheilige Rolle während des Zweiten Weltkriegs. Ein heranwachsender Junge wird Zeuge, wie sein Vater jahrelang von der Zerschlagung Belgiens und der Aufnahme Flanderns in den Großbund der germanischen Länder träumt, um nach Kriegsende die Heimat und ihren König umso überschwänglicher zu preisen.
So stellt man sich diesen Autor zumeist als eine Art belgischen Günter Grass vor. Dabei verfügt der 1929 in Brügge Geborene über ein weitaus umfangreicheres Arsenal an Inhalten und Mitteln zu deren ästhetischer Umsetzung. Wohl niemand war in dem bis in die 70er-Jahre als äußerst rückständig geltenden Flandern weltoffener als Claus, der schon als zwanzigjähriger Maler und Schriftsteller in Paris mit Karel Appel ausstellte und danach in Italien und den USA lebte. Drehbücher schrieb er seit seinen ersten Kontakten mit den Surrealisten in den 50er-Jahren, Belgien hat aber auch wohl kaum einen moderneren Lyriker und gewiss keinen häufiger aufgeführten Dramatiker hervorgebracht.
Fast völlig unbekannt sind in Deutschland noch die kürzeren Prosastücke von Claus. Nun hat Klett-Cotta unter dem Titel „Der Schlafwandler“ drei dieser Texte ins Programm genommen.
Im Zentrum der titelgebenden Erzählung aus dem Jahr 2000 steht ein in die Jahre gekommener Antiquitätenhändler, der sein Gefühl für die Realität verliert.
Der Leser gerät an Bruchstücke aus Alltag, Erinnerung und verzerrter Wiederholung, die er mit der Hauptfigur zu einer sinnhaften Geschichte verbinden muss. Auf der Straße von einem unbekannten Radfahrer absichtlich überfahren, wird der Held von einem Freund von früher vom Boden aufgelesen. Man trennte sich vor zehn Jahren, als ein blutendes Rennpferd auf sie zulief. In dem gediegenen St.-Rochus-Club, in dem sie auf das Wiedersehen anstoßen, tauchen Erinnerungen auf – und eine Frau, die den sonst so Redegewandten stammeln macht, der sich für seine falschen Worte „schert“ statt schämt.
Zu Hause angekommen geht er seiner kinderlosen Frau aus dem Weg, die die gemeinsam angeschaffte Katze wie ein Baby im Arm wiegt, und legt sich gleich ins Bett. Noch bevor er in den schützenden Schlaf hinabgleiten kann, fällt ihm ein, wer die Frau war, die ihn aus der Fassung brachte: Laura, „für die ich meine erste Frau verlassen habe“. Und er rafft sich auf und tritt im Pyjama auf die Straße, um die Geliebte von früher noch einmal zu finden. Er wird dabei an ausgebrannten Autobussen vorbeikommen, an verkohlten Dörfern, deren Bewohner ein Brot im Arm tragen wie einen Säugling.
Selbst in einem kurzen Text kann der Autor ein komplexes, in seiner Undurchschaubarkeit verstörendes Geäst aufbauen und dieses gewandt als Netz über seinen Leser werfen. Dieser taumelt mit wachsender Lust dem rastlosen Helden hinterher, der auf einem zwischen Traum und Realität aufgespannten Seil immer unsicherer tanzen muss. Hugo Claus, der gerade mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wurde, hat nicht nur Belgiens Geschichte und Skandale auf packende Weise in die heutige Zeit getragen, sondern auch den Surrealismus. STEFAN DAVID KAUFER
Hugo Claus: „Der Schlafwandler. Drei Geschichten“. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, 200 S., 18 €