Lautloser Terror

Sandra Pingel-Schliemann hat ein Standardwerk überdie Verfolgung der DDR-Oppositionellen veröffentlicht

Sandra Pingel-Schliemann gebührt die Ehre, ein Standardwerk zur Verfolgung der DDR-Opposition in den 70er- und 80er-Jahren publiziert zu haben. Zwar wurde auf die Spezifik der Repression in der späten DDR schon von Jürgen Fuchs aufmerksam gemacht. Im Detail beschrieben wird die Strategie der „Zersetzung“ jedoch erst hier.

Nutzte die SED in den ausgehenden 40er- und in den 50er-Jahren noch offen gewalttätigen Justizterror, so wurden seit den 70er-Jahren eher subtile Formen der Verfolgung favorisiert. Dass dieser Wandel mit der neuen internationalen Rolle der DDR zu tun hatte – Quasi-Anerkennung durch die Bundesrepublik, Aufnahme in die UNO, Beteiligung an der KSZE –, ist zwar oft behauptet, nirgendwo jedoch überzeugend belegt worden. Pingel-Schliemann holt das nun nach.

Als eigentliche Wende vom offenen Justizterror hin zu einer flächendeckenden Anwendung von Zersetzungspraktiken beschreibt die Autorin die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976. Seit diesen Tagen stellte sich für SED und Stasi dringlich die Frage, wie man eine innere Opposition zerschlagen oder wenigstens neutralisieren könnte, ohne in das grelle Licht der internationalen Öffentlichkeit zu geraten.

Die Lösung war eine systematische Art lautloser Kriegführung. Es ging dabei um absichtsvoll herbeigeführte Katastrophen: der Ehepartner eines Dissidenten ging anscheinend fremd, der Führerschein war plötzlich verschwunden, Freunde und Angehörige wendeten sich von heute auf morgen ab, das Bankkonto wies keine Deckung mehr auf, er verlor Job und Wohnung.

Ziel solch militärisch geplanter und umgesetzter Zersetzungsstrategien war es, Menschen so in Angst und Schrecken zu versetzen, dass sie nicht mehr handlungsfähig waren. Die Stasi-Verantwortlichen machten oft auch nicht Halt, wenn erkennbar wurde, dass die Opfer offenbar Selbstmord begehen wollten.

Solche Lebenskrisen herbeizuführen, konnte nur gelingen, da Nachbarn, Arbeitskollegen, Vorgesetzte, Freunde, Eltern, Polizisten, Richter etc. auf Anweisung der Stasi mitspielten. In Umrissen zeichnet die Autorin das Bild einer SED-Diktatur, bei deren Maßnahmen wesentliche Teile der Gesellschaft mitmachten. An unzähligen Beispielen schildert Sandra Pingel-Schliemann diesen lautlosen Terror, mit dem SED und Stasi in der späten DDR den wichtigsten Oppositionellen das Leben oft zur Hölle machten.

Dass dieses ausgezeichnete Buch möglich wurde, eine Rekonstruktion sowohl der Zersetzungspraktiken und ihrer Verantwortlichen wie die behutsame Annäherung an die Erinnerung der Opfer, ist – wie die Autorin hervorhebt – nicht zuletzt dem Matthias-Domaschk- und dem Robert-Havemann-Archiv in Berlin zu verdanken. Hier archivieren und rekonstruieren seit Jahren auf hohem professionellem Niveau ehemalige Aktivisten von DDR-Bürgerrechtsgruppen die „Arbeit“ ihrer Gegner von gestern. MARTIN JANDER

Sandra Pingel-Schliemann: „Zersetzen. Strategie einer Diktatur“. 420 Seiten, Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs 8, Berlin 2002, 22 €