Die Unzufriedenen sind wieder still

Die Niederlande stehen vor der Neuwahl. So, wie die Gesellschaft einst die linken Protestbewegungen integrierte, befriedet sie jetzt den Populismus

Das friedliche „Poldermodell“ funktionierte nur so lange, wie die Geschäfte liefen

Die Ermordung Pim Fortuyns hat Holland ebenso wenig radikal verändert, wie dies der Rechtspopulist zu Lebzeiten mit seinem politischen Credo vermocht hat. Das Attentat vom 6. Mai 2002 und der posthume Triumph der Fortuyn-Partei wenige Tage danach haben bei vielen Holländern höchstens einen Rausch ausgelöst. Und das unrühmliche Ende der Mitte-rechts-Regierung nach gerade mal drei Monaten hat ihnen am Ende einen ordentlichen Kater verursacht. Die etablierten Parteien haben den Sturm des letzten Jahres nicht zu Strukturreformen, sondern lediglich zu Akzentverschiebungen und zum Austausch des Spitzenpersonals genutzt. Und auch das nur, weil am Mittwoch erneut gewählt wird.

Zugegeben, Fortuyn hat das Haager Establishment gehörig aufgemischt. Medienwirksam hatte „Professor Pim“ vor den Wahlen im Mai 2002 immer wieder die Selbstzufriedenheit der politischen Klasse aufs Korn genommen, den Repräsentanten der großen Parteien von links bis rechts ihre Untätigkeit um die Ohren gehauen. Er hatte moniert, Regierung und Parlament ignorierten drängende Probleme wie die Reform des Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesens. Außerdem drückten sie sich davor, endlich die Bekämpfung der Kriminalität und die Disziplinierung integrationsunwilliger Migranten anzupacken. Indem er offen aussprach, was viele dachten, sich aber nicht zu sagen trauten, hat Fortuyn über seinen Tod hinaus 1,6 Millionen Niederländer so in seinen Bann gezogen, dass diese am 15. Mai der Liste Pim Fortuyn (LPF) zu 26 von 150 Sitzen im Parlament und zur Regierungsbeteiligung verhalfen.

Doch auch wenn der unbescheidene Hofnarr mit seinen rechtslastigen Ausfällen gegen Multikulturalismus, falsch verstandene Toleranz und staatliche Bevormundung Hollands Konsensdemokratie zeitweilig ins Wanken gebracht haben mag – längst sind die Kandidaten der großen Parteien wieder im Tritt. Längst auch hat sich die LPF, die sich in der Regierungsarbeit gründlich blamierte, selbst überflüssig gemacht und wird kaum noch mehr als sechs Mandate erwerben. Und längst haben Premier Balkenendes Christlich-Demokratischer Appell (CDA) und seine Partner von der rechtsliberalen VVD die Signale vernommen. Was noch Anfang 2002 Fortuyn und seiner disparaten Gefolgschaft vorbehalten war, gehört heute, kurz vor den Neuwahlen, zum Standardrepertoire auch der bürgerlichen Parteien.

So will der CDA Einwanderern, die das „Integrationsangebot“ des Staates nicht annehmen, sofort das Aufenthaltsrecht kündigen. Der aktuelle und möglicherweise auch künftige Koalitionspartner VVD hält das Land ohnehin für „voll“ und will zudem drei oder vier Gefangene in einer einzigen Zelle unterbringen; das Recht auf Intimsphäre ginge „eindeutig zulasten des kollektiven Rechts auf Sicherheit“, so der neue VVD-Spitzenkandidat, Gerrit Zalm. Sein Vorschlag spare Geld und sei für Insassen „gemütlicher“. Pim Fortuyn lässt grüßen.

Durch die Übernahme „eindeutiger“ Positionen dient sich Hollands bürgerliche Rechte vor dem Urnengang einem verwaisten Wählerpotenzial an: jenem Teil der Bevölkerung, der Anfang 2002 explosionsartig seiner latenten Unzufriedenheit mit den verkrusteteten Strukturen und paternalistischen Politprofis Luft machte und dem vermeintlichen Heilsbringer Fortuyn hinterherlief. Dieser Mechanismus ist nicht neu oder einzigartig. In den Niederlanden jedoch handelt es sich dabei um einen uralten Reflex. Er geht zurück auf ein altbewährtes Herrschaftsprinzip: einbinden statt unterdrücken, adaptieren statt reformieren.

Pragmatismus hat in Holland Tradition. Gegensätzliche Interessen und Konflikte gibt es hier wie anderswo auch, nur unterliegt hier der Andersdenkende nicht erst einmal der Ausgrenzung. Im Gegenteil, er wird eingebunden, meist durch ein Angebot, das er nicht ablehnen kann: durch Partizipation, Subvention oder den generösen Verzicht auf Repression. So war seit den frühen Tagen der Republik im 17. Jahrhundert der soziale Frieden mangels starkem Staat durch ein ausgefeiltes System gegenseitiger Duldung gewährleistet.

Das ständige Ausloten blieb bis in die 80er-Jahre erhalten. Denn das Land kannte keine monolithische Machtkonzentration, sondern nur wirtschaftliche, politische und weltanschauliche Interessenssphären, seit dem 19. Jahrhundert als „Säulen“ bezeichnet. Was bis heute als Ausdruck größerer Toleranz und Liberalität der Holländer gilt, ist von daher weniger einer grundsätzlich pluralistischen Geisteshaltung verpflichtet als einem wohlverstandenen Eigeninteresse. Die Devise lautet: Egal, was einer denkt oder zu Hause macht – das Geschäft muss laufen.

Das Phänomen Fortuyn und die Protestwahl von 2002 haben die konsensuelle Kungeldemokratie auf eine harte Probe gestellt. Zugeständnissen an jüngere soziale Bewegungen wie etwa an die Studenten-, Hausbesetzer-, Schwulen-, Umwelt- oder Ethno-Bewegung sind nicht mehr so selbstverständlich wie zuvor. Das Fortuyn-Fieber hat gelehrt, dass der politische Pragmatismus an Attraktivität und Überzeugungskraft eingebüßt hat. Noch vor kurzem herrschte wie selbstverständlich das bürgerliche Bewusstsein, nicht nur vom Staat die politische Absicherung des materiellen Wohlstandes zu erwarten, sondern im Gegenzug auch Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Die neue Ära der entideologisierten Politik hat bei vielen zugleich eine Sehnsucht nach neuen Grundsätzen geweckt, auf welcher ethisch-moralischen Grundlage auch immer.

Fortuyns Forderungen gehören heute zum Standardrepertoire der bürgerlichen Koalitionsparteien

Die Politik hat das verschlafen und damit Pim Fortuyn erst möglich gemacht. Zu lange haben selbstzufriedene, autoritäre Politprofis im Wahn gelebt, sie und nur sie dienten auf unnachahmliche Weise dem Wohl des Volkes. Damit haben sie sich in ein Ghetto hineinmanövriert, aus dem sie nur schwer herausfinden. Die friedliche Koexistenz zwischen Bürgern und Politikern währte nur noch so lange, wie der Laden lief: Der Neoliberalismus der letzten zwanzig Jahre garantierte nochWirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung, das so genannte „Poldermodell“, sowie ein hohes Maß an persönlichen Freiheiten. Die brennenden sozialen Probleme blieben dabei unter dem Teppich. Damit ist es nun zu Ende. Seit Pim Fortuyn sein Gedankensammelsurium präsentiert hat, wissen viele Holländer vor allem, was sie nicht wollen: keine Jugendbanden, keine Wartelisten im Gesundheitswesen, keine Verkehrsstaus, keine Asylbewerberzentren, keine „schwarzen“ Schulen, in denen ausländische Kinder dominieren.

Ein Strukturbruch hat 2002 in Holland nicht stattgefunden, der kurzfristige Populismus wird jetzt wohl genauso integriert wie einst die linke Systemkritik. Es ist Pim Fortuyns Verdienst, dass er den Haager Bürokraten vorgehalten hat, wo ihre Versäumnisse liegen. Tragisch daran ist nur, dass dies wegen der unentschiedenen Haltung der Linken fürs Erste wohl nur das konservative Lager stärken wird. HENK RAIJER