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Archiv-Artikel

Kein Kind verlieren!

Die Helene-Lange-Schule ist eine besondere Gesamtschule, daher lehnt die CDU sie ab. Schulleiterin Enja Riegel erklärt, warum sie einen Versuch lohnt

Interview THOMAS KLEIN

taz: Es gibt Pläne, der Helene-Lange-Schule den Status als Versuchsschule zu entziehen. Was hieße das für Ihre Schule?

Enja Riegel: Es wäre unvernünftig und unökonomisch. Die Helene-Lange-Schule hat weit über Wiesbaden und Hessen hinaus gezeigt, wie erfolgreich sie ist. Ich verstehe nicht, warum man genau an diesem Punkt sagt: „Und jetzt schließen wir sie.“

Man will Ihre Schule ja nicht dichtmachen, sondern sie soll nur ihren besonderen Status als Versuchsschule verlieren …

… ja, aber für uns würde es bedeuten, dass wir unsere besten Arbeitsformen aufgeben müssten. Wir dürften nicht mehr den ausgedehnten Projektunterricht machen – der uns so erfolgreich gemacht hat. Wir dürften nicht mehr in dem jetzigen Umfang fachfremd unterrichten. Wir müssten in den Klassen 5 und 6 wieder Noten geben. Manche Dinge dürfen wir eben nur, weil wir einen erweiterten Spielraum haben.

Und was geschieht Ihrer Ansicht nach, wenn der Spielraum beschnitten wird?

Das liefe auf Nivellierung hinaus. Wir würden zurückgeworfen auf das Normalmaß. Wir würden wieder so durchschnittlich werden wie es die Pisa-Ergebnisse für ganz Deutschland waren.

Ihre Schüler haben bei Pisa ziemlich gut abgeschnitten. Man wirft Ihnen vor, die herausragenden Ergebnisse seien nur zustande gekommen, weil Sie Ihre Besten ins Rennen geschickt haben.

Wir hatten überhaupt keinen Einfluss auf die Auswahl der Schüler. Die Pisa-Teilnehmer sind bei uns, wie überall, per Losverfahren ausgewählt worden. Übrigens haben auch all jene Schüler teilgenommen, die später die Schule mit einem Hauptschulabschluss verlassen haben.

Mancher lokale Wiesbadener Schulpolitiker behauptet: Mit den Mitteln, die Sie aufgrund Ihres Versuchstatus zusätzlich bekommen, wären auch an anderen Schulen entsprechende Ergebnisse herausgekommen?

Das erzielte Ergebnis ist keine Frage der Mittel, sondern Resultat von harter Arbeit – das heißt einer „anderen“ Form von Unterricht und Erziehung. Das Mehr an Lehrerstellen, das uns zur Verfügung steht, ist im Erlass ganz explizit für spezielle zusätzliche Aufgaben bestimmt: Wir haben den Auftrag, neue pädagogische Wege zu erproben.

Was heißt das konkret?

Lehrer unterrichten bei uns nicht Fächer, sondern Schüler. Sie sind in erster Linie Erzieher und erst in zweiter Linie Vermittler von Fachwissen. Ein Team von etwa acht Lehrern begleitet einen Schülerjahrgang – von Klasse fünf bis zur Zehnten. Sie arbeiten eng zusammen, sie kennen die Schüler gut und unterrichten auch fächerübergreifend. Unser oberstes pädagogisches Prinzip unterscheidet sich daher stark von der verbreiteten deutschen Schulphilosophie der Auslese. Bei uns gilt: Kein Kind geht verloren, kein Kind bleibt sitzen.

Das sieht man Ihrer Schule auch äußerlich an.

Jeder Jahrgang lebt und arbeitet in einem eigenen Revier mit Klassenräumen, kleinem Lehrerzimmer und großem Schülertreff für Theaterspielen, Kleingruppenarbeit oder Jahrgangsversammlungen. Lehrer und Schüler übernehmen für das Revier die Verantwortung. Diese Überschaubarkeit, Verlässlichkeit und Kontinuität führt bei den Schülern zu dem Gefühl: „Hier bin ich willkommen, hier bin ich zu Hause.“ Dieses Klima ist Grundlage für gutes Lernen und hohe Leistungen.

Die Leiter anderer Schulen würden das natürlich ganz genauso sagen.

Bei uns ist aber der ganze Unterricht anders. Es gibt neben dem normalen Fachunterricht jedes Halbjahr zusätzlich sechs bis acht Wochen lang große, fächerübergreifende Projekte. In denen können Schüler selber den eigenen „Forschungsfragen“ nachgehen. Wie wir inzwischen von der Hirnforschung wissen, ist es genau das, was die Lust am Lernen ausmacht. Was die Schüler stolz macht und dazu führt, dass sie viel länger und intensiver arbeiten, als wenn sie zum Beispiel in 45-Minuten-Päckchen die üblichen Aufgaben aus dem Mathematikbuch rechnen müssen.

Projektunterricht gibt es heute fast an allen Schulen.

Ich weiß. Der Unterschied liegt aber darin, wie zentral und ernst gemeint solche Projekte sind. Alles, was wir zum Beispiel im Rahmen der Projekte machen, wird der Schulöffentlichkeit präsentiert. Wenn ein Projekt zu Ende ist, dann überlegen Lehrer und Schüler: Was können wir von dem, was wir herausbekommen und erforscht haben, so aufbereiten, dass auch andere etwas davon haben. Das heißt, dieses Lernen erhält eine viel größere Bedeutsamkeit. Schüler sind stolz, wenn andere sagen: „Das ist ja toll, was ihr da gemacht habt.“ Und: Das Gelernte haftet viel länger im Gedächtnis, weil es mit Erlebnissen und Gefühlen verbunden ist. Inzwischen haben wir diese Art des Präsentierens auch auf den normalen Fachunterricht ausgedehnt.

Was halten Sie dem Argument entgegen, dass jeder Versuch irgendwann einmal zu Ende geht?

Dazu kann ich nur sagen: Wir sind kein zeitlich befristeter Schulversuch, sondern eine Versuchsschule. Das ist ein entscheidender Unterschied. Der Kultusminister hat 1995 gesagt, ich möchte wie große Konzerne eine Entwicklungsabteilung haben. Man kann ja nicht immer alles gleich flächendeckend für alle einführen. Man braucht Orte, an denen Dinge ausprobiert, Erfahrungen gesammelt werden, die wissenschaftlich überprüft werden – um dann zu überlegen, wie die Ergebnisse auch auf andere Schulen zu übertragen sind.

Gelingt das?

Allein in Wiesbaden sind in den letzten 15 Jahren vier Gesamtschulen entstanden, die mehr oder weniger unser Prinzip übernommen haben. Wir arbeiten darüber hinaus mit Stiftungen und Universitäten zusammen. Dafür braucht man zusätzliche Kapazitäten – und nicht um auf dem Faulbett zu liegen oder damit die Schüler im Schlaraffenland leben können.

Die CDU-Landesregierung ist nicht gerade ein großer Fan von Ihnen. Befürchten Sie, dass es zu Konflikten mit Schulministerin Karin Wolff kommen wird, der neuen Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz?

Nein. Die jetzige Landesregierung hat uns zwar nicht eingerichtet als Versuchsschule, dennoch hat sie uns in den letzten vier Jahren sehr großzügig unterstützt. Wir haben keine Einschränkungen hinnehmen müssen, und dafür sind wir auch sehr dankbar.

Frau Wolff will Sie bewerten lassen – und dann über die besonderen Bedingungen der Helene-Lange-Schule entscheiden.

Wir wurden Versuchsschule, als wir uns längst auf den Weg gemacht hatten. Wir haben zehn Jahre lang Vorleistungen erbracht. Es ist ja eine ganz unsinnige Vorstellung, man könnte irgendeine Feld-, Wald- und Wiesenschule bestellen und sagen: „Nun seid Ihr unsere Entwicklungsabteilung.“ Kein Konzern würde so handeln. Ich glaube, wenn das Wahlkampfgetöse vorbei ist, werden wir zu einem sachlichen Dialog finden, damit möglichst viele Schulen von unseren Ergebnissen und Erfahrungen profitieren können.